Berlin-„Das weiß-rosa-grau schimmernde Organ mit seiner komplexen Anatomie bietet ein höchst ästhetisches, völlig unblutiges und friedliches Bild“, so schildert Peter Vajkoczy das menschliche Gehirn. Der Neurochirurg an der Berliner Charité hat in seinem Leben Tausende Gehirne gesehen. Und er empfindet immer wieder neu „Respekt vor diesem erhabensten Ergebnis der Schöpfung, das da vor einem pulsiert“. Es sei wie ein eigenständiges Lebewesen, besitze sogar eine Art Emotionalität. „Wenn das Gehirn verletzt ist, dann fängt es an zu schwellen, plustert sich auf, die Blutgefäße ziehen sich beleidigt zurück“, sagt Vajkoczy. „Manchmal ist es auch ein ‚red and angry brain‘, wie man im Englischen sagt“ – also rot und zornig. Und bei Operationen sei ein entspanntes Gehirn, ein „slack brain“, sehr wichtig. Es könne über Erfolg und Niederlage entscheiden.
Wenn man mit Peter Vajkoczy spricht, taucht man ein in eine faszinierende Welt. Der Neurochirurg hat mehr als 15.000 Operationen hinter sich, wie er schätzt. Als er 2007 mit 39 Jahren Direktor der Klinik für Neurochirurgie wurde, war er der jüngste Chefarzt der Charité. Er trägt Verantwortung für drei Neurochirurgie-Standorte mit 36 Ärzten, darunter elf Oberärzte. Sie führen jährlich 5000 Operationen durch, Vajkoczy selbst etwa 800.
Der Wille, die Grenzen des Wissens ständig zu erweitern
Sehr vieles wurde über Peter Vajkoczy bereits geschrieben oder erzählt. Immer wieder hört man, er sei ein „Ausnahmearzt“, ein „Genie am Gehirn“, das „in Hochrisikobereichen“ und „immer am Limit“ operiere. „Ich bin nicht besonders glücklich mit solchen Beschreibungen“, sagt Vajkoczy. Er sehe sich eher als Teil einer Generation, die „die Rolle des Chirurgen entmystifizieren“ wolle, im Gegensatz zu den Vorvätern. Auch deshalb hat Vajkoczy ein Buch geschrieben, das er am Montag, 4. April, um 20 Uhr im Pfefferberg-Theater in der Schönhauser Allee 176 präsentieren wird. Es heißt „Kopfarbeit: Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod“, hat 336 Seiten und ist beim Verlag Droemer HC erschienen.
Peter Vajkoczy ist groß, schlank. Sein Gesicht wirkt männlich und jungenhaft zugleich. Seine Augen blicken hell und freundlich. Sie sehen etwas müde aus, wahrscheinlich vom stundenlangen Blick ins OP-Mikroskop. Sein Büro in der sechsten Etage des Bettenhochhauses der Charité in Berlin-Mitte ist recht schmal. In den Regalen sieht man Fachbücher, Zertifikate, Medaillen, Souvenirs aus anderen Ländern, Bilder mit Danksagungen von Patienten.
Schnell zeigt sich, was Vajkoczys Stärke ausmacht. Er hört aufmerksam zu, greift Bemerkungen auf, die er interessant findet. Seine Gedanken gehen weit über das Technische des Fachs hinaus. Er spricht über Entscheidung, Risiken und Verantwortung. Immer wieder zitiert er Mediziner und Forscher, von denen er gelernt hat, und sei es aus Büchern. So habe ihn etwa die Haltung des amerikanischen Neurochirurgen Robert Spetzler geprägt, erzählt er. Und zwar „sein Mut, nichts unversucht zu lassen, solange für seine Patienten noch der Hauch einer Chance bestand. Und sein Wille, die Grenzen unseres Wissens ständig zu erweitern, aus jedem Rückschlag zu lernen“. Auch diese Haltung hat Vajkoczy zu einem der renommiertesten Neurochirurgen weltweit gemacht.
Das Operationsergebnis prüfen, bevor man den Schädel wieder zumacht
Wir gehen aus dem Büro hinaus, hinunter in den Operationstrakt. Vajkoczy zieht sich grüne OP-Kleidung an, ergänzt durch eine Kopfhaube, Mundschutz und grüne Gummi-Clogs. Es seien seine Glücksschuhe, sagt er, noch aus Mannheim, wo er einst zwölf Jahre lang an der Uniklinik tätig war und sich auf die Neurochirurgie spezialisierte.
Durch die Schleuse geht es in einen langen Gang und von dort aus in die OP-Säle. Es sieht aus wie in einem Hightech-Labor. Man sieht mobil einsetzbare Geräte für die sogenannte Bildgebung – etwa MRT und roboterbasierte Angiografie. Ins Auge fällt auch ein ringförmiges CT-Gerät. „Als wir es vor acht Jahren installierten, war die Charité die erste Klinik in Europa, die ein mobiles CT nutzte“, sagt Vajkoczy. „Man kann nicht oft genug betonen, wie nützlich es ist, das Operationsergebnis überprüfen zu können, bevor man den Schädel wieder zumacht.“ Vajkoczy sieht darin „die Zukunft neurochirurgischer Multifunktions-OPs“.
Auf die Frage, worin die Berliner Neurochirurgen denn noch besonders gut seien, nennt Vajkoczy „die digitalen Verfahren, mit denen man in der Lage ist, die Gehirnfunktionen zu kartieren, bevor man überhaupt in die Operation reingeht“ – damit zum Beispiel bei einer Tumor-OP keine Nerven, Sprachareale oder Blutgefäße beschädigt würden. Das sei wie in einem Wald, „wo man zwischen unzähligen Bäumen eine direkte Fluglinie finden muss“. Die Charité habe als eine der ersten Kliniken der Welt dafür die Methode der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) genutzt. Auch bei „voll navigierten Operationen“ sei man sehr gut. Dabei werde der Chirurg mit eingespielten 3D-Bildern während der OP in sein Ziel gelenkt.
Was die Stärke der Neurochirurgen der Charité ausmacht, könnte man vielleicht verkürzt auf eine Formel mit vier „T“ bringen: Technologie, Team, Training und Talent. Jedes dieser „T“ ist wichtig und macht im Zusammenspiel die Erfolge der Charité-Mediziner aus. Vajkoczy schildert, wie interdisziplinäre Ärzteteams die Operationen gründlich vorbereiten, wie „eine hoch spezialisierte Crew“ im OP-Saal zusammenwirkt, mitunter bis zu 15 Menschen. „Wir sind perfekt aufeinander eingestimmt, nur so können wir uns an einen solchen Eingriff wagen und das Risiko auf ein vernünftiges Maß reduzieren.“ Das Team trainiert die Abläufe und den Umgang mit der Technologie ständig.
Bypässe von weniger als einem Millimeter Durchmesser
In seinem Buch schildert Vajkoczy die Operationen so detailliert und anschaulich, als sähe man ihm direkt dabei zu. Man sieht, wie er sich mit der „bipolaren Koagulationspinzette“ Millimeter um Millimeter zwischen Nerven und Blutgefäßen vorarbeitet, um große Gefäßmissbildungen zu veröden. Wie er Tumore mit dem „Ultraschallaspirator“ zertrümmert, defekte Wirbelkörper ersetzt, Aneurysmen mit winzigen Titanclips abklemmt und Bypässe von weniger als einem Millimeter Durchmesser näht.
Dabei wollte Peter Vajkoczy, 1968 geboren, zunächst gar kein Chirurg werden. Sondern Tennisprofi. „Doch im Alter von 15, 16 führte nichts mehr an der Erkenntnis vorbei, dass mich die meisten der Konkurrenten überholt hatten“, erzählt er. Seine Eltern waren ungarische Ärzte, die 1967 von einer München-Reise nicht nach Ungarn zurückkehrten. Der Name Vajkoczy wird mit langem „o“ und „z“ gesprochen.
Vajkoczy wuchs in München auf. Das Vorbild seines recht früh verstorbenen Vaters, der in Ungarn ein bekannter Thoraxchirurg gewesen war, führte ihn selbst zum Studium der Medizin. Er machte sein Praktisches Jahr in den USA und war anschließend zwölf Jahre in Mannheim. Immer wieder spricht er von seinem Lehrer Peter Schmiedek, der an der dortigen Uniklinik die Neurochirurgie leitete. „Er gab einem das Gefühl, ihm wichtig zu sein, als Arzt und als Mensch“, erzählt Vajkoczy. Er habe die Jüngeren gefordert und auch dafür gesorgt, dass man als Arzt „nicht in die Arroganzfalle“ tappe. „Ich führe die Klinik wie eine Familie“, sagt Vajkoczy über sein heutiges Wirken an der Charité. Das habe er seinem Lehrmeister in Mannheim abgeschaut.
Am Tag unseres Besuchs hat Vajkoczy bereits drei Operationen hinter sich: zwei gutartige Tumore im Gehirn, wovon einer in einer sehr sensiblen Region lag, sowie eine instabile Wirbelsäule. Alle drei seien gut verlaufen, erzählt er, während wir im grünen Dress in einem OP-Saal stehen. Ob sie aber wirklich erfolgreich seien, entscheide sich in der nächsten Zeit. Erfolg definiert Vajkoczy so, dass jemand nach der Operation keine dauerhaften Ausfälle habe, „sodass er sich selbst versorgen und auch wieder in seinem bisherigen Beruf arbeiten kann“. Dieses Ziel erreiche man inzwischen an der Neurochirurgie der Charité zu 93 Prozent, quer über alle Operationen hinweg, sagt er.
Etwa die Hälfte aller Operationen beträfe das Gehirn, die andere Hälfte die Wirbelsäule, erzählt Vajkoczy über seine eigene Arbeit. Bei der Wirbelsäule gehe es um Bandscheibenvorfälle, Verengungen, Fehlbildungen und Tumore. Beim Gehirn machten Tumore etwa ein Drittel der Fälle aus. Ein weiteres Drittel seien Blutgefäßerkrankungen wie Schlaganfälle, Aneurysmen und Gefäßmissbildungen. Hinzu kämen seltenere Fälle wie Verletzungen, Blutungen nach Traumen, Epilepsie und vieles andere.
Komplizierte Tumore, Aneurysmen und gefährliche Gefäßmissbildungen
Viele der 5000 Patientinnen und Patienten pro Jahr reisten aus anderen Bundesländern oder dem Ausland an. Bei etwa 200 Menschen, die operiert würden, hätten andere Kliniken – oft aufgrund ihrer anderen Ausstattung und Erfahrung – eine OP abgelehnt. Über solche Fälle berichtet Vajkoczy auch in seinem Buch. Es handelt sich um besonders komplizierte Tumore im Gehirn oder an der Wirbelsäule, um gefährliche Gefäßmissbildungen oder sehr große Aneurysmen, also Gefäßaussackungen. „Ich lerne ja auch wahnsinnig viel hier“, sagt Vajkoczy. Und mit ihm das ganze Team.
Vajkoczy sieht sich selbst als „Surgeon Scientist“, als forschenden Chirurgen. In Zukunft werde der OP-Saal zu einem zentralen Ort neurowissenschaftlicher Forschung werden, sagt er. Auch er selbst ist an einer Reihe von Forschungsprojekten beteiligt, arbeitet dazu unter anderem mit Wissenschaftlern in Berlin, Münster und Heidelberg zusammen. Erst 2019 war er in Japan, um einen Vortrag über die sehr seltene Krankheit Moyamoya zu halten, bei der sich Hirnarterien verengen. Zur Umgehung bilden sich viele kleine, aber sehr fragile Blutgefäße wie Wölkchen. Tödliche Schlaganfälle und Hirnblutungen drohen.
Peter Vajkoczy ist einer von sehr wenigen Chirurgen weltweit, die sich an die komplizierte Bypass-Operation bei der Moyamoya-Erkrankung wagen. Ein japanischer Kollege sprach vom „Nonplusultra der Kunst“. Bisher hat Vajkoczy etwa 400 Patienten aus vielen Ländern mit Moyamoya operiert. Darunter waren auch sehr kleine Kinder, die er retten konnte und über die er sehr liebevoll schreibt. Vajkoczy hat selbst Familie. Er ist mit einer Anästhesistin verheiratet und Vater zweier Töchter, 13 und 16 Jahre alt.
Gerade bei Moyamoya wird Vajkoczy aber auch von Forschungsinteresse geleitet. Er will wissen: „Was versetzt die Gehirne der Betroffenen in die Lage, neue Gefäße zu bilden? Wie kommt die Initialzündung dafür zustande? Welche Prozesse laufen dabei ab, und welche Strukturen des Gehirns sind beteiligt?“ Man sei gerade auf dem Weg, den molekularen Mechanismus zu verstehen, sagt er. Wenn dies gelinge, hätte man unter Umständen einen neuen Therapieansatz für die vielen Patienten, die unter Arteriosklerose leiden. Und dies ist nur ein Forschungsthema, das Peter Vajkoczy in den nächsten Jahren verfolgen will.
Ein Pakt zwischen dem Allerschönsten und dem Allerschrecklichsten
Das Wichtigste an Vajkoczys Buch ist wohl, dass sich die Schilderung höchster medizinischer Leistung mit großer Menschlichkeit verbindet. „Empathie lässt sich nicht durch Professionalität wegdrücken“, sagt er. „Die Neurochirurgie ist ein Pakt zwischen dem Allerschönsten und dem Allerschrecklichsten“, lautet der Satz eines Kollegen, den er immer wieder zitiert. „Kaum sonst wo dürfte der Grat zwischen Gelingen und Misslingen so schmal sein – und kaum sonst wo sind die Auswirkungen so schicksalhaft.“
Ein Beispiel für das Gelingen ist etwa der junge Mann aus München, der mit 19 Jahren zu Vajkoczy kam. Er litt unter einem besonders bösartigen Hirntumor, einem Glioblastom. Zehn Jahre nach der Operation lebt er noch immer und schickt Vajkoczy regelmäßig Karten. „Ein Glücksfall, der jegliche Statistiken Lügen straft.“ Dann aber gibt es auch Fälle wie den einer 29-jährigen Aneurysma-Patientin, die er nicht retten konnte. „Es ist eine der bittersten Erfahrungen meiner ärztlichen Laufbahn“, sagt Vajkoczy. „Sie liegt einige Jahre zurück. Noch heute habe ich Kontakt zur Familie.“
