Das Bundesverwaltungsgericht hat den Bezirken eine Waffe gegen Immobilienspekulationen und für Mieterschutz aus der Hand geschlagen. Wie sich das Urteil gegen das gesetzliche Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten auswirkt, zeigt sich jetzt, neun Monate nach der Entscheidung. Hunderte von Wohnungen konnten seither von den Bezirken vor Verkäufen und Vermarktung nicht geschützt werden.
Nachdem das Gericht die bisherige Praxis bei der Ausübung des Vorkaufsrechts im November vergangenen Jahres gestoppt hat, ist in „mindestens 177 Fällen“ die Anwendung des Vorkaufsrechts in Berlin ausgeschlossen worden. Das sagten die Linke-Abgeordneten Elif Eralp und Niklas Schenker unter Berufung auf die Antwort der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auf eine von ihnen gestellte Anfrage. Da sich hinter jedem Fall meist ein Mehrfamilienhaus verbirgt, ist die Zahl der betroffenen Mieter deutlich größer.
Allein in Friedrichshain-Kreuzberg gab es demnach 30 Fälle, in Charlottenburg-Wilmersdorf 16 und in Neukölln und Pankow 38 beziehungsweise 37 Fälle. Hinzu kommen 20 Fälle in Tempelhof-Schöneberg, 19 in Treptow-Köpenick sowie 17 Fälle in Lichtenberg. Für Mitte liegen keine genauen Daten vor.
Insgesamt erteilten die Berliner Bezirke seit dem Gerichtsurteil in 292 Fällen ein sogenanntes Negativzeugnis, womit sie auf Vorkaufsrechte verzichteten. Nicht in allen Fällen geschah dies aber aufgrund des Urteil des Bundesverwaltungsgerichts.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte am 9. November vergangenen Jahres entschieden, dass das Vorkaufsrecht nicht auf Basis der Annahme ausgeübt werden dürfe, dass der andere Käufer die Mieter in der Zukunft aus dem Gebiet verdrängen könnte. Genau das war bis dahin die zentrale Argumentation, wenn etwa Bezirke in Berlin das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten zugunsten eines gemeinwohlorientierten Dritten, meist einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft, ausübten.
Schnelle Wiederherstellung des Vorkaufsrechts gefordert
Betroffen von dem Urteil sind neben Berlin alle Städte, die bei der Ausübung des Vorkaufsrechts ähnlich argumentiert hatten. Also auch Hamburg und München. Für sie ist die Ausübung des Vorkaufsrechts seit November 2021 de facto kaum noch möglich.
Ohne das Druckmittel des Vorkaufsrechts sind zudem die Chancen gering, private Erwerber von Wohnhäusern in Milieuschutzgebieten zu einem besonderen vertraglichen Schutz der Mieter zu verpflichten. Abwendungsvereinbarungen werden solche Verpflichtungen genannt, weil die Erwerber damit die Ausübung des Vorkaufsrechts abwenden konnten. Mietervertreter befürchten, dass Bewohner in Milieuschutzgebieten nun leichter verdrängt werden können.
„Die betroffenen Hausgemeinschaften sind dringend auf eine schnelle Wiederherstellung des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten angewiesen“, sagt der Linke-Abgeordnete Schenker. Wie viele Wohnungen in Berlin sich in Häusern befinden, für die das Vorkaufsrecht nicht mehr ausgeübt werden konnte, lässt sich laut Antwort der Stadtentwicklungsverwaltung nicht genau sagen. Weil die Zahl der Wohnungen nicht von allen Bezirken mitgeteilt oder nur teilweise erfasst wurde.
Allein in Pankow sind aber – soweit bekannt – 605 Wohnungen betroffen, von denen in „nahezu allen Fällen“ das für den Verkauf benötigte Negativzeugnis nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu erteilen war. In Charlottenburg-Wilmersdorf geht es um mindestens 350 Wohnungen, deren Verkauf in der überwiegenden Zahl der Fälle nach dem Urteil ermöglicht werden musste. Und in Tempelhof-Schöneberg trifft dies für mehr als 380 Wohnungen zu.
Abwendungsvereinbarungen werden nicht mehr anerkannt
Besonders gravierend: Von den insgesamt 383 abgeschlossenen Abwendungsvereinbarungen in Berlin werden laut Senatsantwort 54 nach dem Urteil nicht mehr anerkannt oder per Klage angefochten. Betroffen sind – soweit bekannt – mehr als 1000 Wohnungen. „Die vielen Klagen gegen Abwendungsvereinbarungen sind ein Warnsignal“, sagt der Linke-Abgeordnete Schenker. „Offenbar sind viele Eigentümer freiwillig nicht dazu bereit, auf Gewinnmöglichkeiten zu verzichten und ihre Mieterinnen und Mieter vor mietsteigernden Luxussanierungen zu schützen.“
In keinem Berliner Bezirk wurde nach dem Urteil vom November 2021 ein Vorkaufsrecht wie früher üblich ausgeübt. Allerdings wurden drei Abwendungsvereinbarungen abgeschlossen. Eine davon im Bezirk Mitte, zwei in Charlottenburg-Wilmersdorf. Für ein unbebautes Grundstück in der Nehringstraße 14 wurde dabei vereinbart, dass in einem neu zu errichtenden Wohngebäude 30 Prozent der Geschossfläche für mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnraum vorgesehen werden muss.
Es sei „positiv zu bewerten“, dass die Bezirke Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf auch nach dem Urteil zum Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten mit Eigentümern Abwendungsvereinbarungen getroffen haben, sagt Elif Eralp. Solche Vereinbarungen könnten „ein wirksamer Baustein im Kampf gegen Bodenspekulation und steigende Mieten sein“.
Nur einige Bezirke informieren Mieter über Verkäufe
Über Verkäufe von Wohnhäusern in Milieuschutzgebieten werden die betroffenen Mieter von den Bezirken unterschiedlich informiert. Während Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Charlottenburg-Wilmersdorf die Mieter über die Verkäufe ins Bild setzen, wird dies laut Senatsantwort in Pankow, Spandau, Tempelhof-Schöneberg, Treptow-Köpenick, Lichtenberg und Reinickendorf nicht getan. Das sollte sich ändern, wenn es nach dem Linke-Abgeordneten Schenker geht. Alle Bezirke sollten die Mieter informieren, wenn deren Haus verkauft wurde, fordert er – damit sich die Bewohner zumindest mietrechtliche Unterstützung einholen können.



