Berlin - In den vergangenen Tagen kamen zwei Leserbriefe in der Redaktion an, die mich beunruhigten. Dabei waren es zwei sehr freundliche Briefe, von aufmerksamen Lesern der Berliner Zeitung. Aber im ersten nannte mich der Leserbriefschreiber „westsozialisiert“. Im zweiten ging es darum, dass ein Text von mir auf einer Seite erschienen war, in deren Überschrift die Formulierung „an Weihnachten“ stand. Dabei heißt es doch im Osten „zu Weihnachten“. Wie jeder weiß, der hier aufgewachsen ist.
Ich bin mir nicht sicher, was „westsozialisiert“ im deutsch-deutschen Nachwendediskurs bedeutet, aber es fällt mir schwer, das Wort mit meinem Leben in Verbindung zu bringen. Ich bin in Prenzlauer Berg, Karlshorst und ein bisschen in Marzahn aufgewachsen, wenn ich alle Stadtteile mitzähle, in denen meine geschiedenen Eltern gewohnt haben. Im Sommer nach dem Mauerfall, ich war 15, jobbte ich als Babysitterin bei einer Familie in Charlottenburg. Der fünfjährige Sohn war der erste Westdeutsche, den ich näher kennenlernte, er erklärte mir den riesigen Fernseher, die rot aufleuchtende Herdfläche, das schnurlose Telefon.
Dann lernte ich sehr lange keine Westdeutschen näher kennen. Es war keine Absicht, wirklich nicht. Ich studierte sogar an der Freien Universität, in Lankwitz und Dahlem, tief im Westen Berlins, es hätte anders kommen können, vielleicht sogar müssen.
Am ersten Tag an der FU sprach ich nur mit einem einzigen anderen Studenten. Er sagte nach fünf Minuten, dass er aus Dessau kommt. Wir mochten uns sofort. Später sollten wir in einem Seminar Arbeitsgruppen gründen. In meiner waren ein Thüringer, noch ein Ost-Berliner, der Dessauer und ich. Ich kann nicht mehr erklären, wie das passiert ist, wer wen gefragt hat. Aber ich glaube, dass wir alle stiller waren als die anderen im Seminar. Wir gaben nicht ständig mit unseren spannenden Praktikumsplätzen an, weil wir keine hatten. Außerdem lachten die drei nicht, als mir in einem Vortrag das Wort Kaufhalle herausrutschte.
Zwei westdeutsche Freundinnen, immerhin
Bei meinem Nebenjob im Büro eines Kurierdienstes, das auch in West-Berlin lag, freundete ich mich mit der Sekretärin an, einer Treptowerin, wie sich herausstellte. Abends ging ich mit meinen Schulfreunden aus, oder mit Leuten, die ich beim Ausgehen kennengelernt hatte, alle kamen aus Ost-Berlin. Wir redeten nie über den Osten, Herkunft, höchstens darüber, wer an welcher Schule war. In meinem letzten Kurs an der Uni freundete ich mich dann mit einer Kommilitonin an, von der ich kurz annahm, sie sei aus Essen. Sie hatte da aber nur eine Ausbildung gemacht. Eigentlich kam sie aus Südbrandenburg.
Meine Kollegin Anja Reich hat neulich darüber geschrieben, wie oft sie seit der Wende allein unter Westdeutschen gesessen hat. In Büros, auf Podien, aber auch auf Partys.
Ich kenne das Gefühl aus Jobs, die ich später hatte. Aber ich habe mein Privatleben, ohne das je so zu planen, in einer Ossi-Parallelgesellschaft verbracht. Immerhin habe ich inzwischen eine gute Freundin, die aus München kommt, und eine, die aus der Nähe von Freiburg im Breisgau stammt, der Stadt, die ich lange mit Freiberg in Sachsen verwechselte. Ich lernte sie in Mexiko kennen, zwölf Jahre nach der Einheit, bei einem Praktikum im Goethe-Institut, bei dem ich zum ersten Mal in meinem Leben die einzige Ostdeutsche war.

