Wer bestimmt eigentlich gerade, was an der Berliner Volksbühne passiert? Nach 25 Jahren Frank Castorf wechselte die Intendanz dreimal, da kann man schon mal Orientierung suchen. Die Hauptstadt-Website Berlin.de teilt mit, auf Chris Dercon folgte René Pollesch. Interessant! Der eine wurde 2018 gekündigt, der andere kam 2021, und dazwischen?
Da hatte der linke Kultursenator Klaus Lederer den Theaterfachmann Klaus Dörr bestellt, der im April 2018 anreiste, um nach der desaströsen Fehlsteuerung der Bühne mit dem großen Aufräumen zu beginnen. Als künstlerischer Direktor des Schauspiels Stuttgart pendelte Dörr zunächst, wurde später in Berlin als Übergangsintendant bis 2021 verpflichtet. Trotz Pandemie hinterließ er die Bühne mit mehr Rücklagen, als er vorgefunden hatte. Sein Name fehlt in der Aufzählung auf der Website – ist gecancelt, gestrichen, ausradiert wie die ganze Person. Was muss einer anstellen, um von so einer Seite und aus dem gesamten Kulturbetrieb zu verschwinden?
Klaus Dörr, Jahrgang 1961, war immer ein Theatermacher im Hintergrund. Er inszeniert nicht selbst, stand vor allem für die verlässliche Wirtschaftlichkeit der Häuser. Er arbeitete lange in der freien Szene, seit 2006 an Staatsbühnen wie dem Maxim-Gorki-Theater. In die Schlagzeilen geriet er erstmals vor einem Jahr, als ihn die Tageszeitung taz als übergriffigen „Sexisten“ bezeichnete und die Frage stellte: War der Kultursenator gewarnt? Gewarnt. Als wäre ein Straftäter dem Gefängnis entflohen und bilde eine Gefahr.

Dörr wies alle Vorwürfe zurück: Egal, der nächste MeToo-Fall war in der Welt
Klaus Dörr wies sämtliche Vorwürfe zurück. Doch egal, der Ton war gesetzt, der nächste MeToo-Fall in der Welt. Der Intendant legte drei Tage nach der taz-Veröffentlichung sein Amt nieder, übernahm die Verantwortung. Er wollte sich der medialen Schlammschlacht entziehen. Die fand nun ohne ihn statt. Die Presse sog den Fall gierig auf und schmückte ihn aus. Die Frauenzeitschrift Brigitte stellte Dörr in eine Reihe mit dem Regisseur Dieter Wedel und dem verurteilten Sexualstraftäter Harvey Weinstein, drei Fotos, gleich groß nebeneinander unter dem Titel: „Belästigt, vergewaltigt, Freispruch?“ Als sei einer der drei nach einer Vergewaltigung freigesprochen worden.
Klaus Dörr redet seit seinem Rückzug nicht mit der Presse. Journalistinnen, die ihn trotzdem in ihren MeToo-Berichten unterbringen, ersetzen eigene Recherchen gern durch krasse Meinungen. Dörrs Anwalt ist gegen ein Dutzend Veröffentlichungen juristisch vorgegangen. Die Beiträge verschwanden dann online oder wurden korrigiert, im Brigitte-Text trägt nicht nur die Schlagzeile schwarze Balken.
Nur, wie ausfällig war der übergriffige „Sexist“ überhaupt geworden, dass die Gesellschaft ihn ausschließen musste? Man stutzt schon beim ersten Lesen der taz, die sich der „Aufdeckung“ des Falles rühmt, denn der Hauptvorwurf läuft auf angebliches „Anstarren“ von Frauen hinaus. Der einzige zitierte fiese Spruch („... jeder will dich ficken!“) fiel – wenn überhaupt – vor sieben Jahren nach viel Wein auf einer Premierenfeier in Stuttgart. Ansonsten stellt die taz vor allem unkonkrete Behauptungen auf wie „enge, intime, körperliche Nähe und Berührungen, erotisierende Bemerkungen“, Mobbing, Machtmissbrauch. Was genau ist gemeint? In den Gedächtnisprotokollen der Beschwerdeführerinnen der Volksbühne – es sind sieben, nicht wie kolportiert zehn –, liest es sich so: Klaus Dörr hat einer Frau „die Hand auf die Schulter gelegt“, angeblich auch auf ein Bein, es reichte „bis zu Handküssen zur Begrüßung“. Die „sexistischen“ Begriffe heißen „Maus“, „Theatermaus“, „Tante“; Machtmissbrauch meint wohl SMS nach Feierabend aufs Privathandy. Eine Schauspielerin will nach einem Gespräch mit Dörr Existenzangst bekommen haben, sie ist 63 und unkündbar, weil länger als 15 Jahre am Haus.
Die Volksbühne und die Tabubrüche auf der Bühne
So, und jetzt stellen wir noch mal kurz klar, an was für einem Ort wir uns gerade befinden. An der größten Bühne Berlins mit hochemanzipiertem, 270-köpfigen Ensemble, berühmt für Inszenierungen mit ungenierten Tabubrüchen entlang zivilisatorischer Abgründe? Oder in einem stalinistischen Erziehungsheim, in dem geknechtete Insassen nicht Laut geben dürfen? So angstgeschüttelt, dass sie einfache Sätze nicht sprechen können: Chef, bitte keine Hand auf meine Schulter! Castorf dürfte sich gekugelt haben vor Lachen, als er die Nachrichten von seiner alten Bühne las. Was passierte denn, wenn eine Kollegin verlangte, Dörr möge keine „unangemessenen SMS“ senden? Dann, schreibt die taz, hat sich der Intendant entschuldigt und keine Nachricht mehr geschickt. Warum haben das die anderen Frauen nicht gekonnt?
Das Umfeld von Klaus Dörr ist nicht ganz so verschlossen wie sein Ex-Chef. Das wusste zu schätzen, hört man, dass nach der Führungslosigkeit unter Dercon ein gebildeter Theaterprofi das Haus übernahm, für Struktur sorgte. Etliche Angestellte hatten sich da schon gewaltige Freiräume verschafft. Erzählt wird, dass eine Beschwerdeführerin ihre Freundin während der Vorstellung auf der Bühne empfing, dass es keine Vormittagsproben gab – zu früh! –, manche Abteilungen gar nicht funktionierten. Klaus Dörr, Wirtschaftswissenschaftler, ein Mann mit Macht- und Sendungsbewusstsein, war geholt worden, um Finanzen zu ordnen und einen Spielplan aufzustellen. Er entschied sich übrigens vorrangig für feministische Themen und Regisseurinnen.
Deutsche Theater-Hierarchien mit jährlich kündbaren Engagements stellen für Beschäftigte indiskutable Härten dar. Klar kann man da unter Anpassungsdruck geraten, um sein Engagement nicht zu gefährden. Und offensichtlich war Dörr auch ein Chef mit klarer Ansage, viel Hinwendung zu Frauen. Ein Mann mit losem Mundwerk und gelegentlich blöden „Jungssprüchen“: „Oh, Frau K. lebt auf großem Fuß“ – zu einer Kollegin mit hohen Stiefeln. Den großen MeToo-Lärm bezog er wohl nie auf sich.

Jede Kollegin kann sich Sprüche von Männern verbitten
So einen muss nicht jede Kollegin mögen, aber jede kann sich Sprüche verbitten, zur Not über Frauenbeauftragte und Personalräte. Doch die Beschwerdeführerinnen der Volksbühne hielten sich eher an die linksradikale Feministin (Selbstbeschreibung) Sarah Waterfeld. Sie hatte 2017 mit ihrem Kollektiv „Staub zu Glitzer“ unter Dercon die Volksbühne besetzt, bis das Haus von der Polizei geräumt wurde.
Auch Dörr lehnte ihr künstlerisches Projekt an der Volksbühne ab. War es ein Racheplan, was nun folgte? Waterfeld rühmt sich heute, acht Monate lang für Dörrs Sturz und das Ende der „patriarchalen Tyrannei“ gekämpft zu haben. Erzählt auf Instagram, wie sie die Frauen zu der Beschwerde gebracht und die Presse mobilisiert hat, „Überredungskunst“ einsetzen musste. Denn die Frauen wollten partout keine Namen nennen, nicht vor die Kamera, weshalb die Fernsehkollegin absprang. Zuletzt habe Waterfeld, erzählt sie, die taz aktiviert, die dann die läppischen Vorwürfe skandalisierte. Am Tag von Dörrs Rücktritt habe sie eine halbe Stunde lang geweint – vor Glück. Enttäuscht nur, weil die taz ihre, Waterfelds, monatelange Recherchearbeit einfach unerwähnt ließ.
Solche Kräfte bestimmen, was an der Spitze eines Berliner Staatstheaters passiert? Nicht der Kultursenator?
Nun, der hörte sich über Stunden an, was betroffene Frauen vorzutragen hatten und ließ ihre Gedächtnisprotokolle rechtlich prüfen. Fachanwälte bestätigten ihm, dass derart vage, unkonkrete Vorwürfe sicher nicht mal für eine Abmahnung reichten. Monate später konfrontierte der Kulturstaatssekretär den Intendanten mit den Vorwürfen der Mitarbeiterinnen. Aber es gab keinen einzigen Vermittlungsansatz, nicht einen Versuch der Konfliktlösung, nichts. Nach Erscheinen des taz-Artikels ließ Lederer den Intendanten fallen, nahm den Rücktritt an, drei Monate vor Ende der Amtszeit. Spreizte sich im Kulturausschuss, wie er sofort Verantwortung übernommen habe für die betroffenen Frauen.
Reicht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nicht bis zum Intendanten? Doch, doch! Als 2019 Vorwürfe über den rabiaten Führungsstil der Gorki-Theater-Intendantin Shermin Langhoff aufkamen, setzte Lederer sofort einen Mediationsprozess in Gang. Verlängerte danach Langhoffs Vertrag bis 2026, ohne es der Öffentlichkeit mitzuteilen, „vergessen“ – behauptete er im Onlineportal Nachtkritik. Monate später berichtete der Spiegel über massive Vorwürfe gegen Langhoff („Das Gorki bin ich!“), weit konkreter als an der Volksbühne. Langhoff blieb. Klar – sie ist eine Frau mit türkischen Wurzeln, ihr migrantisches Theater hat Erfolg, wird goutiert von linker Klientel. Da hat der Senator einen Kompass, was zu tun ist.
Der gewesene Volksbühnen-Intendant, der nach jahrzehntelanger untadeliger Arbeit keinen Job mehr bekommt, findet nicht mal mehr Erwähnung auf der Website. Der Mann hat Handküsse auf dem Gewissen! Wobei Klaus Lederer natürlich nicht gerichtet hat. Diesen Part überließ er der radikalen Aktivistin und der skandalisierenden Presse.
Die Staatliche Ballettschule und der mediale Druck
Verdachtsberichte von Journalisten können Karrieren zerstören. Sie übernehmen dabei alle Aufgaben von Polizei und Justiz gleichzeitig – Ermittlung, Anklage, Verurteilung. Die Unschuldsvermutung als hohes Rechtsgut fällt als erstes. Ein Richter, der Beweise prüft, kommt vielleicht am Ende zum Einsatz, wenn es wie bei Dieter Wedel und dem Kabarettisten Luke Mockridge um behauptete Vergewaltigung geht. Mörder oder die kirchlichen Missbrauchstäter können sich dagegen rechtlich darauf verlassen, dass ihre Namen vor einem Urteil in keiner Zeitung auftauchen. Aber was sind schwere Verbrechen gegen starrende Blicke? Schnell und laut ist ein Tribunal zur Stelle, das die „Täter“ öffentlich an den Pranger stellt – mit Foto, Namen, Rücktrittsforderung.
Thomas Oberender, langjähriger Intendant der Berliner Festspiele, hatte den Rückzug sogar schon angetreten, die anonym sich beklagenden Mitarbeiterinnen hatten längst gekündigt, als der rbb den Führungsstil am Haus geißelte. Um ein besseres Arbeitsklima konnte es dem Sender also nicht mehr gehen. Oberender stelle viele Dinge anders dar, teilt der rbb nachträglich online mit – aber das Urteil in der Öffentlichkeit war gefällt.
So wie vor zwei Jahren, als der rbb den ersten Bericht über vermeintlich skandalöse Zustände in der Staatlichen Ballettschule ausstrahlte. Vier Frauen hatten zuvor ein anonymes Dossier mit Denunziationen über die Schule verfasst, wonach die Abendschau einen dramatischen Beitrag sendete. Zeugin war ausgerechnet eine Lehrerin, die wegen Alkoholproblemen die Schule verlassen hatte.
Unter dem medialen Druck sprach die damalige Bildungssenatorin den erfolgreichen Leitern der Schule Ralf Stabel und Gregor Seyffert nach 17 Jahren Hausverbote aus, ohne dass die Vorwürfe zumindest im Ansatz geprüft worden waren. Auch hier: Die Namen verschwanden sofort von der Website. Danach gewannen beide Leiter sämtliche Arbeitsrechtsprozesse, was den Steuerzahler bis heute teuer zu stehen kommt. Aber beim Zuschauer war nach der Abendschau hängen geblieben: An dieser Schule muss es schrecklich zugegangen sein.
So wie an der Volksbühne, bei den Festspielen und wer weiß wo noch. Welche Rolle Recht und Gesetz in der Zukunft spielen könnten, wenn Denunzianten und Moralisten die Hoheit über die Wahrheit übernehmen, wenn sich der Gender-, Sensibilisierungs- und Antidiskriminierungswahn weitere Räume in der Kultur erschließt und „Opfer“ kreiert, zeigt die neue Dienstverordnung im Theater an der Parkaue. Die besagt: Es wird unwiderleglich vermutet, dass jemand beleidigt oder diskriminiert wurde, wenn er sich beleidigt oder diskriminiert fühlt. Dann folgt eine Art Strafkatalog.
