Es muss ein besonderer Moment gewesen sein auf diesem Dachboden in Chicago: 16 große Holzkisten, in denen die 1057 Porzellanfliesen bruchsicher verpackt waren. So wurde das Wandgemälde „Germania – Beschützerin von Wissenschaft und Kunst“, auf Englisch „Glory of Germania“, entdeckt.
Nun ist dieses – sicher eines der größten je von der KPM gefertigten Wandbilder – wieder zurück an seinem Entstehungsort, in der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin in der Charlottenburger Wegelystraße. Das Bild selbst ist eine Schenkung, wie sein Entdecker und führender Erforscher, Professor Reinhard Andress von der Loyola University Chicago, berichtet.
Im Zuge seiner Recherchen wandte sich Professor Andress an die KPM in Berlin, und es wurde klar, dass dieses kunsthistorisch bedeutende Werk seinen Weg zurück an seinen Ursprungsort und also nach Berlin finden musste. „Als Wissenschaftler hat mich das Wandbild sehr fasziniert, zumal es mit so spannenden Aspekten verbunden war“, sagte Andress in einer Pressemitteilung. „Nach langen Überlegungen schien es für uns die beste Lösung, es der Stiftung Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin zu schenken. Dort ist es in ausgezeichneten Händen und kann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.“
Einzigartiges Projekt
Doch nun gilt es, die 1057 Fliesen penibel zu restaurieren und einen neuen Platz für das Werk zu finden. Dazu findet am 19. September abends ein großes Stiftungsfest in der Manufaktur statt, auf dem KPM-Inhaber Jörg Woltmann das Projekt vorstellen und um Spender werben will. „Dies ist ein Meilenstein für die Stiftung Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin und ein Zeichen für die deutsch-amerikanische Freundschaft“, sagt Woltmann, selbst Stifter sowie Vorstandsvorsitzender der Stiftung KPM. „Wir sind stolz und sehr froh darüber, dass dieses einzigartige Produkt unseres Unternehmens nach 130 Jahren wieder den Weg nach Hause gefunden hat.“

Das Bild entworfen und seine Ausführung überwacht hat der Maler Alexander Kips, damals künstlerischer Leiter der KPM. Gefertigt wurde „Glory of Germania“ für die World’s Columbian Exhibition, eine sechs Monate dauernde Weltausstellung, die 1893 in Chicago stattfand. Angesichts der Machtposition des kaiserlichen Deutschlands in Europa nach Bismarcks Vereinigung von 1871 war klar, dass die noch junge Nation bei dieser Schau der Nationen erstklassig vertreten sein musste. „Umso mehr, da sie diese 1889 in Paris noch boykottiert hatte, und zwar als Teil einer Koalition europäischer Monarchien im Protest gegen die Feiern zum Jahrhundert-Jubiläum der Französischen Revolution, die gleichzeitig stattfanden“, erläutert Professor Andress in einem Bericht der Fachzeitschrift Keramos. „Etwa 3,6 Millionen Reichsmark wurden vom Kaiserreich beiseitegelegt, um die Beteiligung Deutschlands an der Schau zu finanzieren.“ Deutsche Hauptattraktion war klar die „Porcelain Porch“, ein Flachpavillon mit dem Gemälde aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin. Kips war für die Installation selbst von Berlin nach Chicago gereist, oder wie die Chicago Daily Tribune zu berichten wusste: „Prof. Kips has seen personally to its mounting and thanks to careful packing it stood the passage from Germany unhurt by so much as a scratch.“
Und nun zum Bild selbst. Eine Allegorie der weltlichen Göttin Germania als Schutzpatronin von Wissenschaft und Kunst wird unten gerahmt von Größen der deutschen Kunst- und Geistesgeschichte, darunter Johannes Gutenberg, Albrecht Dürer und der Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz. Aber auch Johann Friedrich Böttger, der als Erfinder des europäischen Porzellans gilt, errang einen Ehrenplatz in der Riege der Kunst und Handwerk befördernden Deutschen. Dazu sollte man wissen: Chicago war 1893, nach Berlin und New York, weltweit die Stadt mit der drittgrößten deutschsprachigen Einwohnerschaft. Nach der Weltausstellung ging das Porzellanbild in den Besitz des dortigen Germania Clubs über (es gab damals noch über 400 deutsche Vereine in Chicago) und wurde an der Westwand des Ballsaals installiert. Während seiner USA-Reise saß Bundeskanzler Konrad Adenauer bei einem Bankett im Club am 14. April 1953 in unmittelbarer Nähe des Werks, wie ein historisches Foto zeigt.

Nach Auflösung des Clubs Mitte der 1980er-Jahre ging das Wandbild in den Besitz des German American Heritage Institute (GAHI) über. Die über tausend Einzelteile wurden verpackt, auf dem Dachboden eines Altenheims eingelagert und gerieten dort in Vergessenheit. Bis jetzt. Man darf gespannt sein, wann und wie genau es hier in Berlin zu einer Attraktion werden wird. Aktuelle Informationen hierzu findet man auf der Website der Stiftung Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin, www.stiftung-kpm.de.
1. Germania: Holde Isolde statt wuchtige Walküre

Die Figur der Germania ist hochinteressant. Die weltliche Göttin ist überraschend unmartialisch dargestellt – keine massive Walküre mit Harnisch und Schild, wie sie auf vielen Gemälden des 19. Jahrhunderts grimmig gen Westen (wo der Erzfeind Frankreich wohnt) schaut. Sondern eine beinahe schlanke, pastellhelle Frauenfigur, deren wehendes Blondhaar mit Lorbeer bekränzt ist. Wir merken: In der KPM um 1900 war man auch über Jugendstil informiert. Und „Glory of Germania“ sollte auf der Chicagoer Weltausstellung um Wirtschaftsbeziehungen für deutsche Unternehmen werben.
Man war also bemüht, der Welt ein freundliches, international attraktives und emotional positives Image von Deutschland zu bieten. Begleitet wird die Göttin von zwei Edelfrauen, von denen die obere Kunst oder Wissenschaft, die untere die angewandte Kunst verkörpern könnte. Beide sind in jenem vage freizügigen Stil gekleidet, der durch viktorianische Starmaler oder Prunkgemälde wie etwa Hans Makarts „Der Einzug Karls V. in Antwerpen“ von 1878 im Historismus bestens eingeführt war.
2. Köln versus Berlin: Welcher Dom passt besser?

Wie erhaltene Entwurfsskizzen von Alexander Kips zeigen, sollte ursprünglich der alte Berliner Dom das Gemälde bekrönen. Dieser, 1750 im barocken Baustil errichtet, wurde allerdings 1893 abgerissen – und später durch den heutigen Dom im Stil der Neorenaissance ersetzt. In dieser (irgendwie typisch berlinischen) Umbau- und Zwischensituation entschieden sich Kips und wohl auch einige behördliche Mitentscheider für den Kölner Dom als krönendes Motiv. Schließlich sollte die Germania-Allegorie ja für das gesamte Deutsche Reich gelten.
Der Mann mit Kappe und pelzgefüttertem Mantel wurde erst als Martin Luther identifiziert. Nach aktuellem Stand der Forschung stellt er aber wohl den ersten Dombaumeister Kölns, Gerhard von Rile oder „Meister Gerard“ (1210/1215–1271) dar.
3. Renaissance der Meister: von Dürer bis Holbein und Hans Sachs

Bekanntermaßen identifizierte sich das deutsche Bürgertum der Gründerzeit gern mit der Renaissance. Man richtete sich „Augsburger Stuben“ ein und imitierte das süddeutsche Kunsthandwerk des 16. Jahrhunderts. Richard Wagners „Tannhäuser“ und „Die Meistersinger“ zeugen von dieser Manie für alles „Altdeutsche“. Auch im Wandbild „Glory of Germania“ stehen neben der Titelfigur vor allem Personen aus dieser Epoche im Zentrum. Als eine Art Gottvater der Gruppe ist Albrecht Dürer dargestellt, wobei Kips sich eng an das berühmte Selbstporträt von 1500 anlehnt. Offenbar wollte er den Meister etwas älter zeigen, was auch die – anders als im Originalporträt – vorne übereinandergelegten Hände ausdrücken.
Rechts unter Dürer ist Hans Burgkmair der Ältere abgebildet, der Holzschnittzeichner der Epen „Weißkunig“ und „Theuerdank“ von Kaiser Maximilian I. Der Mann mit Kappe und prächtigem roten Rock könnte Hans Holbein sein. So legt es jedenfalls ein Interview mit Alexander Kips nahe, das dem 1893 in der Chicago Daily Tribune publizierten Artikel zugrunde lag. Die beiden muskulösen Männer hinter ihm könnten Johannes Guttenberg, den Erfinder des Buchdrucks, und den Dichter Hans Sachs darstellen. Der Herr mit Rokoko-Perücke und hellblauem Rock über ihnen ist mit großer Sicherheit der Alchemist und Porzellan-Pionier Johann Friedrich Böttger. Rechts hinter ihm, mit dunkler Lockenmähne und Spitzenjabot, sehen wir den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz.
Was aus heutiger Sicht auffällt: Frauen kommen in diesem Tableau nur als entindividualisierte Symbolfiguren vor. In seiner in Keramos publizierten Analyse sagt es Professor Andress ganz deutlich: „Kam Kips überhaupt auf den Gedanken, dass er auch Frauen wie zum Beispiel die erste deutsche Dichterin Roswitha von Gandersheim oder die Mystikerin Hildegard von Bingen hätte abbilden können? ... Wahrscheinlich spielten Frauen in seinen Überlegungen bei der männlich geprägten Kultur des 19. Jahrhunderts keine Rolle.“
4. „Vater Rhein“: Und nun zum gemütlichen Teil

Was insgesamt an dem Gemälde auffällt, ist eine schon fast religiöse Ernsthaftigkeit im Ausdruck der Figuren. Niemand scheint richtig gute Laune zu haben – mit einer signifikanten Ausnahme: der à la Rubens oder Tiepolo muskelbepackte Fluss Rhein am unteren Ende des Gemäldes sowie die ihm über die Schulter zuprostenden Zwerge. Letztere sind natürlich ein Verweis auf die Nibelungen und die unerschöpfliche deutsche Märchen- und Sagenwelt. Die junge Dame links vom Flussgott? Könnte die Donau oder die Mosel sein. Genaueres ergibt wohl erst die kunsthistorische Erforschung von „Glory of Germania“.
5. Mit wehenden Fahnen und Zwirbelbart

Neben der Flagge mit Preußen-Adler und der bayerischen Flagge sind es laut Professor Andress wohl die Fahnen von Württemberg und Sachsen, die hier im Wind flattern. Dies waren die Königreiche und flächengrößten Mitglieder des jungen bismarckschen Staatenbundes. Die Landsknechte sind abermals als Hommage an die deutsche Renaissance zu verstehen und scheinen sich wenig daran zu stören, dass sie von Germania und ihrem Hofstaat eher ignoriert werden.
