Kolumne

Ein leeres Grundstück

Was eine Baubrache in Berlin mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat.

Seit 1945 sichtbare Hauswand
Seit 1945 sichtbare HauswandNikolaus Bernau

In unserer Straße gibt es eine Lücke im geraden Lauf der Fassaden, trotz des Baubooms seit 1990. Bis zum Zweiten Weltkrieg stand hier ein ganz normales, 1884 in spätklassizistischen Formen gebautes Mietshaus. Seit der Trümmerbereinigung in den 1950er-Jahren wachsen wild einige Bäume auf dem Grundstück. Oft sieht man Menschen auf dem Bürgersteig stehen und ahnt: Da wird gerade spekuliert, wie es im teuren Berlin des Jahres 2022 noch solch eine edle Lücke geben kann, was man hier bauen könnte.

Zerstört wurde das Vorderhaus von einer großen Bombe, die in der Mitte der Straße niederging, dabei auch das gegenüberstehende Haus wegblies. Während dieses in den 1990ern durch einen moderat postmodernistischen Neubau ersetzt wurde, existieren von dem Vorderhaus nur noch die Reste der einstigen Durchfahrt und ein vollgelaufener Keller. Er muss der Traum jeder Rattenfamilie sein. Und dann gibt es, erzählen die Bewohner des Hinterhauses, die Bretter der einstigen Vorderhausböden, die aus der Ruine im Krieg herausgezogen und als Isoliermaterial vor die Brandwände gesetzt wurden. Energiesparen ist wirklich keine neue Erfindung.

Man kann diese Lücke als reines Bauerwartungsland sehen, wie Stadtplaner, Spekulanten und Investoren. Sie ist aber auch ein inzwischen in Berlin rar gewordenes Denkmal. Es erinnert an einen Krieg und seine Folgen, geplant von einem Mann, dem bis fast an das Ende seiner Herrschaft die überwältigende Unterstützung der Bevölkerung galt. Dabei hatte er in Reden und Schriften bis in Details seine Bereitschaft zum Zivilisationsbruch angekündigt. Ein angeblich im persönlichen Umgang durchaus angenehmer Mann, der Oppositionelle und ihm missliebige Minderheiten brutal verfolgen und ermorden ließ, der sich mit Rechtsradikalen und Diktatoren aller politischen Lager verbündete, um freie, demokratische und rechtsstaatlich organisierte Gesellschaften zu unterminieren.

Die aber gestanden ihm immer wieder zu, er versuche doch nur, durch Verluste des Staatsgebiets entstandene nationale Traumata zu bereinigen. Nicht einmal als er Gewaltorgien gegen seine eigenen Bürger initiierte, internationale Verträge brach, ein Nachbarland besetzte, ein zweites, demokratisch regiertes Nachbarland amputierte, zerschlug und besetzte, als er im Bund mit einem anderen Diktator den Krieg gegen ein drittes Nachbarland begann, wollten viele Demokraten einsehen, dass Widerstand geboten sei. Viel besser sei es doch, wenn das überfallene Land neutral würde, demilitarisiert und sich ergebe in sein Schicksal. „Für Danzig sterben?“ war 1939 die Parole der damaligen Diktatorenversteher.

Ach so – Sie haben mich missverstanden. Nein, hier ist nicht von Vladimir Putin, seinen Helfern und seinen Kriegen die Rede, sondern von Adolf Hitler und Stalin. Ich schreibe nicht über Wolodymyr Selenskyj, sondern von Winston Churchill, der sich, so wie jetzt der ukrainische Präsident, weitgehend unerwartbar und zunächst vor allem mit Reden bewaffnet gegen eine schier unüberwindlich scheinende Macht stellte. Ich lese gerade seine eben jetzt sehr lesenswerten Memoiren und sehe dabei auf eine prachtvolle Platane, die seit dem Krieg an der Stelle eines Hauses wuchs. In der ganzen Straße sind bisher übrigens nur drei blau-gelbe Flaggen der Ukraine zu sehen. Vielleicht nicht zufällig hängen sie an dem Neubau und an dem Hinterhaus jenes Grundstücks, das ungewollt daran erinnert: Wenn Demokratien Autokraten und Diktatoren immer wieder nachgeben, werden diese militanter, nicht milder. Bis sie Krieg beginnen können, um ihre Ziele zu erreichen.