Berlin-So etwas wie Ruhe existiert in meiner Familie nicht. Die Çalışkans sind unglaublich laut, schon immer gewesen. Bis zu meinem Umzug nach Berlin habe ich bei meinen Eltern in der Mannheimer Innenstadt gelebt. Meine Schwester und mein Bruder, beide außer Haus, sind in dieser Zeit oft zu Besuch gewesen – und sind es noch heute regelmäßig. Wenn wir beisammen sind, wird über die kleinsten Kleinigkeiten gestritten, auch am Esstisch. Es wird geflucht, gelacht, dann wieder gestritten, bis irgendwann eine Unterhaltung in einer „normaleren“ Lautstärke geführt wird, bis der Kreislauf nach spätestens fünf Minuten von vorne beginnt.
Der ruhigste Çalışkan war mein Papa, der so gut wie jeden Abend nach dem Abendessen auf seinem weißen Sessel vor dem TV einschlief, was dazu geführt hat, dass bis in die tiefe Nacht irgendeine dramatische Soap Opera, Nachrichten oder türkisches Survivor im Hintergrund lief.
Selbst wenn kein Besuch da war, gab es in meiner Familien-WG ein endloses Grundrauschen. In der Küche ertönte aus dem Radio auf Metropol FM türkische „arabesk“ Musik. Meine Mutter klimperte dabei mit dem Geschirr, kochte, telefonierte laut mit einer Freundin oder saugte Staub. Manchmal machte sie auch alles gleichzeitig, was mir regelmäßig die Nerven raubte und zu Streit führte. Geflucht. Gelacht. Der Kreislauf.
Es war also nie wirklich still, in dieser Wohnung, die ohnehin durch ihre Lage umgegeben war von Polizeisirenen, betrunkenen, grölenden Jugendlichen und aufgepimpten, lauten Autos. Die Çalışkans lieben und hassen sich von Zeit zu Zeit, so wie es wahrscheinlich in allen Familien der Fall ist.
Die Ruhe, die ich mir in Mannheim gefühlt mein ganzes Leben lang ersehnte, habe ich in der Hauptstadt, in meiner eigenen Wohnung, finden können – und würde sie am liebsten für immer aus meinem Leben verdammen. Mein Papa ist kurze Zeit, nachdem ich umgezogen bin, schwer an Sars-CoV-2 erkrankt und nach vier Wochen auf der Intensivstation am Morgen des 4. Dezember 2020 gestorben.
Wenn Ruhe einkehrt, denke ich an ihn, sehe ihn an der Schwelle meiner Haustür stehen, wo ich mich im Zuge meines Umzuges Ende September von ihm verabschiedete, wo ich ihn das allerletzte Mal sah. Sehe ihn in einem imaginären Krankenbett liegen, umgeben von Monitoren. Ich erkenne ihn in meinen weißen Gardinen, die er für mich aufhängte, in meinem Schrank, den ich mit ihm aufbaute. Ich führe in meinem Kopf Gespräche mit ihm, höre seine Stimme in meinen Ohren, bilde mir laut piepende Medizingeräte ein. Verfluche die Stille. Und wünsche mir in solchen Momenten nichts sehnlicher als meine laute, nervige, türkische Familie, die sich rund um meinen schlafenden Papa im Wohnzimmer stritt, der immer friedlich durchschlief, und immer nur aufwachte, wenn der Fernseher ausgeschaltet wurde.





