Es ist knapp zwei Jahre nach der mutmaßlichen Tat, als der Rentner Jörg E. vor der Richterin des Amtsgerichts Tiergarten beteuert, es nicht getan zu haben. Der kräftige 85-Jährige mit den nach hinten gekämmten grauen Haaren hört der Staatsanwältin aufmerksam zu. Die Vorsitzende Richterin fragt, ob er zu der Anklage etwas sagen wolle. Er sagt, er müsse sich dazu äußern: „Der Vorwurf stimmt ja nicht.“ Kurz darauf schwört Jörg E., nichts getan zu haben – „bei allem, was mir heilig ist“.
Der Witwer sitzt vor der Richterin, weil er sich wegen sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss. Die Anklage wiegt schwer: Jörg E. soll seiner Charlottenburger Nachbarin Ketamin in das Weinglas geschüttet, sie damit gefügig gemacht und die nicht mehr reaktionsfähige Frau sexuell bedrängt haben. Er war zum Tatzeitpunkt 83 Jahre alt. Seine Nachbarin war ein Jahr jünger.
Laut Anklage ging er am 4. August 2020 gegen 18.30 Uhr in die Wohnung seiner Nachbarin. Mit zwei Flaschen Rotwein, die er bei Aldi erworben hatte. Rund drei Monate zuvor war seine Frau gestorben. Auch die Nachbarin war Witwe. Sie hatten das Treffen am Vortag verabredet.
Nur bis hierher stimmen die Vorwürfe der Staatsanwältin und die Aussage von Jörg E. überein. Dann gehen die Angaben auseinander. Laut Anklage soll der einstige Bauklempner beabsichtigt haben, sich seiner Nachbarin sexuell anzunähern und ihr, um sie gefügiger zu machen, Ketamin zu verabreichen. Das ist ein Narkosemittel, das überwiegend in der Tiermedizin Anwendung findet und halluzinogene Nebenwirkungen haben kann.
Zunächst leerten sie eine der Flaschen, unterhielten sich laut Anklage über Belangloses. Dann soll Jörg E. seiner Nachbarin heimlich das Ketamin in ihr noch gefülltes Weinglas gegeben und der Frau vorgeschlagen haben, mit ihm Brüderschaft zu trinken. Die Nachbarin willigte ein. Schließlich lebte man seit mehr als 50 Jahren Tür an Tür.
Beide tranken ihre Gläser in einem Zug aus und küssten sich. Jörg E. soll der Frau einen Zungenkuss gegeben haben, worüber die Nachbarin „überrascht und schockiert“ gewesen sei. Sie habe den Vorfall aber nicht weiter kommentiert.
Zwei Versionen vom Ablauf des Abends
In der Anklage heißt es, dass Jörg E. aufgesprungen sei und seiner Nachbarin unvermittelt und kräftig an die Brust gefasst habe, sodass sie ein Hämatom davontrug. Die Frau versuchte demnach noch, sich zu wehren. Sie habe jedoch in diesem Moment wegen des Ketamins schlagartig das Bewusstsein verloren. Danach sei der Angeklagte aus der Wohnung gegangen.
Die Version von Jörg E. geht so: Sie hätten die ersten Flasche ausgetrunken und über ihre verstorbenen Eheleute gesprochen. Nachgeschenkt „von dem ganz leichten Rotwein“ habe immer er, sagt er auf Nachfrage. Auch die zweite Flasche hätten sie noch geöffnet. Das erste Glas der Nachbarin daraus sei noch nicht geleert gewesen, als sie „sehr lange im Bad verschwunden“ sei. „Als ich schon nach ihr sehen wollte, kam sie mit einem unsicheren Gang zurück“, erzählt Jörg E. An der Couch sei seine Nachbarin dann zusammengesackt.
Als ehemaliger Rettungsschwimmer wandte Jörg E. nach eigenen Angaben den Rettungsgriff bei Ertrinkenden an, zog die Frau so auf die Couch. Mit starren Augen habe sie ihn angesehen. Das habe ihn „wahnsinnig an den letzten Blick meiner Frau im Krankenhaus“ erinnert. Er habe dann gefragt, ob er noch irgendetwas tun könne, habe aber keine Antwort erhalten und die Wohnung verlassen. Die Nachbarin kam zweimal wieder zu sich, bis sie am nächsten Morgen ihre Tochter informierte, die die Polizei rief. Die Seniorin wurde damals ärztlich untersucht, eine Blutprobe wurde allerdings nicht genommen.
Warum er an jenem Abend keinen Notarzt gerufen habe, will die Richterin vom Angeklagten wissen. Er habe geglaubt, dass seine Nachbarin nur betrunken wäre. „Und einen Rausch muss man ausschlafen.“ Wie erkläre er sich, so die Staatsanwältin, dass im Glas seiner Nachbarin ein Rückstand von Ketamin gefunden wurde? Jörg E. kann sich das angeblich nicht erklären. „Von mir war das nicht“, beteuert er. Und wieso er beim Brüderschaft trinken die Zunge in den Mund seiner Nachbarin geschoben habe, lautet ihre nächste Frage. Er kenne dies von Kindesbeinen an, antwortet er.
Es kommt zu einem Rechtsgespräch zwischen den Prozessbeteiligten. Danach verkündet die Richterin, dass das Verfahren ausgesetzt wird. Ein forensischer Sachverständiger soll klären, ob die Ketamin-Spuren aus dem Weinglas auch im Zusammenhang stehen könnten mit Medikamenten, die die Nachbarin damals genommen hatte.


