Verkehr

Blindenverein klagt gegen den Senat: E-Scooter runter von den Gehwegen!

Mehr als 54.000 elektrische Tretroller kann man in Berlin mieten. Viele von ihnen werden falsch geparkt. Jetzt wollen Juristen das Übel an der Wurzel packen.

In Mitte warten elektrische Tretroller auf Mieter. Die Zahl dieser Vehikel ist in Berlin stark gestiegen. Mit neuen Regelungen versucht der Senat das Problem in den Griff zu bekommen.
In Mitte warten elektrische Tretroller auf Mieter. Die Zahl dieser Vehikel ist in Berlin stark gestiegen. Mit neuen Regelungen versucht der Senat das Problem in den Griff zu bekommen.Sabine Gudath

Thomas Hiby hat das Mandat zum Klagen. Der Berliner Rechtsanwalt will im Auftrag des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins (ABSV) Berlin dafür sorgen, dass die mittlerweile mehr als 54.000 Miet-E-Scooter in der Stadt nicht mehr auf Gehwegen abgestellt werden. „Die Sondernutzungserlaubnisse, die der Senat den Vermietern erteilt hat, sind rechtswidrig, wenn nicht sogar nichtig“, sagte Hiby der Berliner Zeitung. Gegen diese Erlaubnisse richtet sich die Verbandsklage, die der Jurist mit einem Anwaltskollegen vorbereitet und in absehbarer Zeit beim Verwaltungsgericht Berlin einreichen will. Es wäre das erste Gerichtsverfahren zu diesem Thema in Berlin.

Teilen statt besitzen: Nach diesem Motto handeln immer mehr Menschen in Berlin. Die deutsche Hauptstadt ist zur Sharing-Metropole geworden, in der das Angebot an Mietfahrzeugen besonders groß ist. In der Innenstadt ist ein beachtlicher Teil der Stellplätze mittlerweile von Carsharing-Autos besetzt. Die Zahl dieser Vehikel wird in der Verwaltung von Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) mittlerweile mit 4790 beziffert. Für andere Autos ist es mancherorts eng geworden.

Stolperfallen für Blinde und Sehbehinderte

Die meisten Sharing-Fahrzeuge werden jedoch in der Regel auf Gehwegen abgestellt. Rechnet man die Angaben aus den Sondernutzungserlaubnissen der Senatsverwaltung zusammen, werden in Berlin derzeit rund 4460 elektrische Motorroller sowie circa 9100 Mietfahrräder auf öffentlichen Straßen und Plätzen angeboten. Die meisten Konflikte entzünden sich an elektrischen Tretrollern, von denen laut Senat rund 54.220 in Berlin vermietet werden. Obwohl sich die Anbieter bemühen, ihre Kundschaft zu einem rücksichtsvollen Verhalten zu bewegen, werden viele dieser Zweiräder auf Gehwegen geparkt. Für Menschen, die nicht oder nicht gut sehen, sind sie Stolperfallen.

Deshalb dürfte es kaum verwundern, wenn die Berliner Landesorganisation des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands nun auch gerichtlich gegen die Gefahr auf den Bürgersteigen vorgehen will. Thomas Hiby, selbst sehbehindert, ist mit dem Themenbereich vertraut. Er hat in anderen Städten bereits Verfahren zu den Miet-Tretrollern betreut – und gewonnen.

Keine Legitimation für das massenhafte Abstellen auf Gehwegen

Der ABSV habe ihn und den Rechtsanwalt Michael Richter beauftragt und mandatiert, gegen die „formal und inhaltlich ungeeigneten Sondernutzungserlaubnisse umgehend in geeigneter Weise rechtlich vorzugehen und dazu auch gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen“, teilte Thomas Hiby mit. Trotz aller Bemühungen trage die Senatsverwaltung für Mobilität „den Belangen von Menschen mit Behinderungen, insbesondere blinden und sehbehinderten Menschen nur ungenügend Rechnung“, bemängelte er. Darum werden sein Kollege aus Marburg und er Klage einreichen.

Eine Jelbi-Station der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Hier können neben anderen Fahrzeugen auch E-Scooter gemietet werden. Senat und BVG wollen die Zahl dieser Stationen erhöhen. Im Umkreis gilt ein Abstellverbot.
Eine Jelbi-Station der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Hier können neben anderen Fahrzeugen auch E-Scooter gemietet werden. Senat und BVG wollen die Zahl dieser Stationen erhöhen. Im Umkreis gilt ein Abstellverbot.dpa/Britta Pedersen

Hiby erläuterte der Berliner Zeitung seine rechtliche Argumentation. „Paragraf 11 Absatz 5 der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung besagt, dass für das Abstellen solcher Fahrzeuge die für Fahrräder geltenden Parkvorschriften entsprechend gelten“, erklärte Hiby. Diese Parkvorschriften seien allerdings nirgendwo schriftlich festgehalten, in Gesetzeskommentaren komme das Thema so gut wie nicht vor. Die bisherige Debatte beziehe sich zudem auf das Parken von privaten Fahrrädern, deren Zahl übersichtlich ist. „Damit kann der Paragraf 11 Absatz 5 nicht als Legitimation für das massenhafte Aufstellen von kommerziellen E-Scootern auf Gehwegen dienen“, folgert er.

Das bedeutet, dass es an einer straßenverkehrsrechtlichen Regelung fehlt, die sich mit der Nutzung von Gehwegen für kommerzielle E-Scooter-Flotten befasst, lautet Hibys Zwischenbilanz.

Land Berlin verstößt gegen Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes

Straßenverkehrsrecht fällt exklusiv in die Kompetenz des Bundes, erläutert der Jurist weiter. „Wenn das Land Berlin nun versucht, dieses regulatorische Vakuum mit Sondernutzungserlaubnissen und Nebenbestimmungen zu füllen, agiert es in einem rechtlichen Vakuum. Denn dazu ist es nicht befugt, dieses Instrument ist ungeeignet und rechtswidrig.“ Wie berichtet, müssen die Vermieter seit dem 1. September im Besitz einer solchen Erlaubnis sein. Inzwischen trifft das für alle Anbieter von E-Scootern und Mieträdern zu, dem Vernehmen nach auf das Carsharing-Unternehmen Miles.

Grundlage ist eine Änderung des Berliner Straßengesetzes, in das ein neuer Paragraf 11a eingeführt worden ist. „Dadurch ist Berlin also in einem Bereich, für den der Bund die Zuständigkeit hat, tätig geworden. Damit hat das Land gegen die im Grundgesetz festgelegte Kompetenzverteilung verstoßen“, stellte der Rechtsanwalt fest.

Senatsverwaltung verteidigt die Regelungen

Der Senatsverwaltung für Mobilität erscheint die Argumentation als nicht schlüssig. Das gelte insbesondere für die Zielstellung, teilte Sprecher Jan Thomsen am Montag mit. „Die Beantragung von Sondernutzungen auf öffentlichem Straßenland ist ein etabliertes Verfahren für verschiedenste Nutzungen. Mit dem novellierten Straßengesetz können seit dem 1. September 2022 auch Sharing-Angebote reguliert werden.“

Über Nebenbestimmungen, auch Auflagen genannt, ließen sich seitdem verbindliche Regeln insbesondere zum Abstellen von Sharing-Fahrzeugen jenseits der Gehwege festlegen. Genau diese Vermeidung von Nutzungskonflikten sei im Interesse des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverbands, so Thomsen weiter. Es können nicht in dessen Interesse liegen, dass solche Regeln für die Herstellung von Barrierefreiheit keine Gültigkeit haben, weil das Straßenverkehrsrecht des Bundes keine dafür geeigneten Instrumente bietet. „Wir warten den Ausgang eines möglichen Verbandsklageverfahrens ab“, erklärte der Sprecher.

Jeder Anbieter muss eine telefonische Hotline einrichten

Inzwischen wurden die Nebenbestimmungen, die mit den Sondernutzungserlaubnissen verbunden sind, bekannt. So dürfen pro Standort maximal vier E-Scooter zusammenstehen, der Gehweg muss auf einer Breite von mindestens 2,30 Metern frei bleiben. Radwege, Friedhöfe, Grünanlagen, Fußgängerzonen, Brücken sowie Zugänge zu Bahnhöfen und anderen Gebäuden sind tabu. Werden Vermieter tagsüber zwischen 6.00 und 20.00 Uhr darüber informiert, dass E-Scooter falsch stehen und umgeparkt werden müssen, ist dafür maximal vier Stunden Zeit. Trifft der Hinweis zu anderen Zeiten ein, muss das Umstellen spätestens bis zum folgenden Tag um 10.00 Uhr geschehen. Die Anbieter müssen eine telefonische Hotline einrichten, die täglich mindestens von 6.00 bis 22.00 Uhr kostenlos erreichbar ist.

Mit dem Sondernutzungsregime und den Nebenbestimmungen verfolgt die Verwaltung drei Ziele: die Flotten weiter in die Außenbezirke zu bringen, auf 100 Prozent lokal emissionsfreie Antriebe umzustellen und insbesondere die Gehwege von falsch abgestellten Fahrzeugen frei zu halten. Dafür sollen Abstellflächen am Straßenrand in Kombination mit virtuellen Abstellverbotszonen eingerichtet werden, und zwar an Orten, die mit den Anbietern und den Bezirken gemeinsam identifiziert werden. Um jede neue Abstellfläche gilt im Radius von 100 Metern dann ein Abstellverbot, so der Senat.