Berliner lassen sich nachweislich nur schwer beeindrucken: Da schwebt also eine riesige Tanne über ihren Köpfen und die Menschen blicken kaum auf oder höchstens, um dann genervt die Straßenseite zu wechseln. Die gedämpfte Begeisterungsfähigkeit liegt vielleicht aber auch am Wetter: Wolkenverhangener Himmel, nasser Asphalt und mürrische Menschen in Bürokluft – pünktlich zum Aufbau des Weihnachtsmarkts am Breitscheidplatz zeigt Berlin sein graues Wintergesicht. Hier, am Zoologischen Garten, haben die Leute es besonders eilig, überholen einander und rennen auf grüne Ampeln zu.
Nur ein winziges Grüppchen bleibt vor dem Transporter mit festlicher Fracht stehen – einem 22 Meter hohen Weihnachtsbaum. Einige von ihnen entpuppen sich als echte Weihnachtsfreaks: „Wir kommen jedes Jahr extra aus Neukölln“, sagt Gabi Jaschewski, eine grauhaarige Dame. „Und sind richtig erschrocken.“ In der Tat sieht die Kolorado-Tanne am unteren Ende etwas zerzaust aus. Jaschewskis Mann hat es sich auf einer Plastiktüte gemütlich gemacht und fotografiert den Baum „trotz Schönheitsfehler“ mit seinem Smartphone, als der Kran ihn langsam aufrichtet.
Der Baum ist nicht nur wegen der lichten Zweige ein ziemlich problematisches Exemplar. Eigentlich sollte er schon gestern angeliefert werden, doch er war zu breit für den Britzer Tunnel. Nach deutscher Behördenmanier, musste zunächst eine neue Strecke beantragt werden. Berlin ist inzwischen bekannt für seine Tannenpannen: Im Jahr 2000 war die Fichte so mickrig, dass sie an die Tiere im Zoo verfüttert wurde, 2001 zerbrach der Baum, auch 2003 wurde der Baum ausgetauscht. 2007 wog die Fichte zu viel und blieb an einer Brücke hängen, 2020 verhinderten falschparkende Autos die Anlieferung.

Dabei wählen die Schausteller den Baum unter vielen Bewerbern aus, wie die diesjährige Spenderin Margot Herre versichert. Stolz blickt sie auf ihr Tannen-Baby, das nach Ansicht der Nachbarn schief stand und deshalb wegmusste. „Einen Meter groß war sie vielleicht, als ich sie Mitte der 90er-Jahre gekauft habe“, sagt Herre und klingt dabei wehmütig. Der Abschied gestern Abend sei schon komisch gewesen. „Ein kleines Tränchen habe ich vergossen“, sagt sie. Die gelernte Schriftsetzerin hält einen Zweig in der rechten Hand, eine Erinnerung, die ihr die Arbeiter eben gegeben haben. Sie streicht versonnen darüber. „Ganz angenehm“ seien die Nadeln, nicht etwa so spitz wie bei einer Blautanne.


