Berlin-Wissen Sie, wo das Köpenicker Feld liegt? Gärten, Allmende-Weiden, wenige kleine Häuser. Ländliche Idylle vor den Mauern der Stadt Berlin. 200 Jahre her, höchstens die Köpenicker Straße verweist heute noch auf den alten Namen der Fluren zwischen Spree und Landwehrgraben. Aber ein etwa zwei Kilometer langer Grünstreifen erinnert an die wilden Aufbauzeiten, als aus dem Köpenicker Feld die steinerne Luisenstadt wurde. Die liegt heute zerteilt – ein Stück in Kreuzberg, ein Stück Mitte.
Die lange grüne Linie markiert den Verlauf des Luisenstädtischen Kanals, gegraben als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für rebellische Männer nach der 48er-Revolution, wirtschaftlich als Wasserweg zwischen dem erweiterten Landwehrkanal und der Spree und als Erholungsort gestaltet von Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné für die Massen von Menschen in den bald dichtest besiedelten Mietskasernenblöcken rundherum.
Durch den Kanal zum Taj Mahal
Erholung blieb als einzige Funktion übrig – zu meinem Glück. Zwei Kilometer auf und zwei ab am Abend unter alten Bäumen, die nach dem Zuschütten des unnütz und stinkend gewordenen Kanals vor fast hundert Jahren gewachsen sind, das ist urbaner Luxus vor der Haustür, ein struppiger, betont ungepflegter Luxus, aber das passt: Ordnung mit einem Rest Unordnung ist ein perfekter Zustand. Makellos in Berlin? Unmöglich. Das Leben hier nutzt seine Orte ab.
Der Gang entlang des Luisenstädtischen Kanals, vorbei an brutalistischen Steinkunstformationen und dem Obdachlosenlager unter einer der Brücken hat ein Ziel, das Engelbecken. Es empfängt mit einem Hauch Exotik: Der Indische Brunnen, 1933 zur Zierde aufgestellt, in der NS-Zeit abmontiert und wahrscheinlich eingeschmolzen, 1995 neu geschaffen und wieder aufgestellt, markiert den Anfang.
Und dann der Blick über das Wasser des Engelbeckens: Der kuppelgekrönte Turm der Michaelskirche spiegelt sich in der glatten Fläche, und vor den Berliner Augen liegt ein Taj Mahal. Entzückend. Auch das Portiönchen Italien, das die Kirche mit ihren architektonischen Vorbildern in Padua und Venedig beiträgt, hebt das Weite-Welt-Gefühl.

Erzengel Michael thront über der Szenerie, gibt dem Arrangement seinen Namen und behütet das Café am Engelbecken zu seinen Füßen. Blaue Stunde auf der Terrasse bei Aperol oder in größerer Runde an einem der großen Biergartentische – was will man mehr. Ein perfekter Ort für die kleine Flucht aus dem Alltag für die Leute aus den Plattenbauten Ost wie aus den Sozialquartieren und Gründerzeitbauten West. Und – wie soll es anders sein an interessanten Berliner Orten – auch dieser trägt historische Lasten. Wer das Buch „Der Luisenstädtische Kanal“ aus dem Berlin-Story-Verlag dabei hat, kann sich tagelang in die unwahrscheinlichsten Details dieses Ortes vertiefen.
Angenehm sitzen am Todesstreifen
Man sitzt hier am Engelbecken nämlich auch auf einem Stück Todesstreifen: Nach dem Krieg wurde zunächst das ehemalige Hafenbecken vollends mit Trümmerschutt der zerbombten Quartiere zugeschüttet, nach 1961 verwandelte sich das gesamte Areal in stark befestigtes Grenzgebiet. Den bogenförmigen Verlauf der Mauer markiert die berühmte Pflastersteinlinie im Boden um das Becken herum.
Dieses lag als kahle Fläche im Mauer-Halbrund, gekrönt von einem Wachturm an der Stelle, wo einst im Hafenbecken eine Badeanstalt lag und Kähne ihre Fracht an die Einwohner verkauften. Heute steht dort eine hölzerne Ententreppe, die auch von panzerbewehrten, nicht-eingeborenen Engelbeckenbewohnern gern genutzt wird – später dazu mehr.
Als sich Berlin den verlorenen Ort an der Trennstelle des Kalten Krieges in den 1990ern wieder zurückholte und den Schutt aushob, hatten die Zuständigen einen sparsam-trockenen Platz vor Augen. Doch stieg das Grundwasser wieder von ganz allein ins Becken, der Platz verlangte, ein Teich zu sein. Und tatsächlich gönnte die Kommune den hocherfreuten Leuten eine Anlage mit allem Drum und Dran: Liegewiese am Wasser, schattenspendende Pergolen über dem Flanierweg rund ums Becken, Büsche, Rosen, eine Terrasse fürs Café. Im klaren Wasser sprühten Fontänen.

Das war zu schön, um wahr zu bleiben in Berlin. Im hübschen Becken landeten bald nicht nur Einkaufswagen, Tausende Flaschen, Elektroroller, Quetschie-Tüten und Riesenmengen sonstiger Müll, sondern auch: exotische Fische aus nicht mehr geliebten Aquarien und Dutzende nordamerikanische Buchstaben-Schmuckschildkröten, um die 25 Zentimeter groß und seit 2016 auf der Liste der „unerwünschten Spezies“ in der EU. Sie sind die anderen Nutzer der Ententreppe.
Die schlimmste Qual: Fütterung
Doch als schlimmste Qual für das Engelbecken erwies sich die Liebe der Familien mit Kindern, die sonst wohl niemals Tiere sehen: Tütenweise warfen (und werfen) sie Brot ins Wasser für die Enten und die Fische. Tag für Tag, Jahr um Jahr. Der anfangs feste Boden hat sich inzwischen zur 20 Zentimeter dicken Ekel-Faul-Schlammschicht entwickelt. Müll und Schlamm verstopfen die Filteranlage. Das Becken ist überfüllt mit Fischen.
Gutachten des Naturschutz- und Umweltamtes von 2019 und 2020 besagen: Die im Faulschlamm massenhaft gründelnden Fische wirbeln dort lagernde Gifte immer wieder auf, das Gewässer sei am Kippen, ein sommerliches Fischsterben drohe. Fundamentalistische Tierschützer beargwöhnen jede Schutzmaßnahme des Bezirksamtes, zum Beispiel das Abfischen.
