Berlin-Eine Triple-Currywurst! Drei Würste mit zuckriger Soße, Pommes, Salatsimulation. Kellnerinnen mit Berliner Schnauze servierten die ultimative Herausforderung an das Verdauungssystem in einer Autobahnraststätte, die ihre Gäste auf Zeitreise in die 1970er- und 1980er-Jahre schickte. Gespeist wurde Auge in Auge mit den Kraftfahrern, die nur wenige Meter entfernt dem Autobahndreieck Funkturm entgegenstreben. Doch das Motel Avus in Charlottenburg mit dem markanten runden Turm und der dazugehörige Rasthof, die beide dicht an der A115 stehen, sind wegen der Corona-Krise seit vielen Monaten geschlossen. Nur der Sanitärkomplex im Keller, in dem Lkw-Fahrer duschen können und das sauberste Autobahnklo der Region meist ungenutzt vor sich hin dämmert, ist noch zugänglich.
Dass das denkmalgeschützte Gebäude von 1937 im Westen von Berlin ansonsten leer und verlassen dasteht, lässt den Autobahnparkplatz, der sich davor im Zwickel zwischen der Avus, der A100 und der Halenseestraße erstreckt, noch trauriger wirken. Das Berlin der veganen Cafés, der Lastenradfahrer und der grünen Ideen einer Stadt der ewigen Freizeit scheint meilenweit weg zu sein von diesem grauen, lärmumtosten Alltagsort, an dem es nach Abgasen riecht. Und der seine wahre Bedeutung verbirgt.
„Die Berliner waren motorsportverrückt“
Denn der heute so unscheinbare Platz trug einst zum Mythos der Avus bei. Auf dem heutigen Motelturm standen früher die Zielrichter, die bei Autorennen die Sieger ermittelten. Davor verlief in einem weiten Schwung die berüchtigte alte Avus-Nordkurve, zwölf Meter hoch, knapp 44 Grad steil und aus Klinkern gemauert. Die riesige Kehre war der von vielen Fahrern gefürchtete nördlichste Teil des Parcours und Schauplatz tödlicher Unfälle, bis sie 1967 nach 30 Jahren sang- und klanglos abgetragen wurde, weil sie dem Ausbau des benachbarten Autobahndreiecks im Weg stand.
Die 8,3 Kilometer lange Avus zwischen Nikolassee und Charlottenburg gilt nicht nur als die erste Straße der Welt, auf der nur Kraftfahrzeuge fahren durften. Die schnurgerade vierspurige Trasse durch den Grunewald war von Anfang an auch eine international bedeutende Rennstrecke. Nicht zu vergessen: Das Vorbild der späteren Autobahnen diente zudem als Teststrecke für Fahrzeugtechnik und Straßenbaumaterialien.
Nicht mehr lange, dann wird die Avus, die heute ein Teil der A115 ist, hundert Jahre alt. Am 24. September 1921 wurde die Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße, wie der Name ausgeschrieben heißt, mit einem Rennen eröffnet. Der 22-jährige Fritz von Opel, der mit 128,9 Kilometern pro Stunde die schnellste Runde gefahren war, gewann. Viele weitere Motorsportveranstaltungen folgten. Fast 77 Jahre, beim letzten Rennen auf der Avus am 3. Mai 1998, fuhr der Sieger Stefan Kissling ebenfalls einen Opel - einen Calibra.
„Die Berliner waren motorsportverrückt“, sagt Ulf Schulz. Willy Brandt (SPD) und andere Regierende Bürgermeister steuerten Grußworte bei, wenn auf der Avus wieder die Motoren aufheulten. Schulz ist ein Kenner der Materie. Ihm gehört die Agentur Motorkosmos, er organisiert die Messe Motorworld Classics. Er sei Autofan schon seit seiner Kindheit und Jugend im Arnimkiez in Prenzlauer Berg, sagt der 42-Jährige. „Ich muss schon früh in ein Dieselfass gefallen sein“, erklärt der gelernte Kfz-Mechaniker. Für ihn ist die Avus ein Berliner Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor. Umso misslicher ist es aus seiner Sicht, dass das offizielle Berlin das runde Jubiläum ignoriert.
Die Avus ist Teil der Berliner DNA
Das 100-jährige Bestehen der ersten Kraftfahrstraße der Welt ist ein Jahrestag, den diese Stadt in der Tat weitestgehend verdrängt. „Vonseiten der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz sind keine Veranstaltungen zum Avus-Jubiläum geplant“, sagt Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne). Auch bei der bundeseigenen Autobahn GmbH, die inzwischen auch für die A115 zuständig ist, winkt man ab. Es seien „keine Aktivitäten“ vorgesehen, teilt Sprecherin Cornelia Mitschka mit.

100 Jahre Avus feiern: Das passt nicht in eine Zeit, in der immer heftiger über den Anteil des Autoverkehrs an der Erderhitzung gestritten wird, in der weiterhin Menschen von Kraftfahrzeugen getötet werden und in der in Berlin immer mehr Autos unterwegs sind. Er habe manchmal das Gefühl, als ewig Gestriger abgetan zu werden, sagt Ulf Schulz. „Aber wo wäre unsere Gesellschaft, wenn es das Auto nicht geben würde?“
Der Mann mit der Mütze wäre um ein Haar mit seinem geliebten Buckelvolvo PV 544 von 1960 zum Gespräch auf dem Motel-Parkplatz gekommen. Aber dann nahm Schulz lieber doch einen neueren Wagen aus seinem umfangreichen Fuhrpark, zu dem auch alte Motorräder gehören. „Ein BMW 730i E32, Baujahr 1991“, erklärt er. „Aus meiner Sicht der schönste 7er der Reihe und zweifellos ein Fahrzeug aus der besten Zeit des Automobilbaus.“ Man merkt sofort: Ulf Schulz mag Autos wirklich sehr.
Er steigt aus dem Auto, um ein Buch aus dem Kofferraum zu holen. Mit dem Motorjournalisten Sven Wedemeyer hat er ein opulent bebildertes Werk über das „rasante Jahrhundert“ auf der Avus zusammengestellt, das 1919 Gramm auf die Waage bringt. Der Berliner hat auch eine Sonderausstellung im Einbecker PS-Speicher initiiert, die am 12. September öffnet, und bereitet für den 24. und 25. September eine Veranstaltung an der früheren Nordkurve vor, zu der Berühmtheiten des Motorsports erwartet werden. Aber auch andere Akteure erinnern an das Jubiläum. Zum Beispiel die Deutsche Post: Sie gab im Juli eine Briefmarke zu 100 Jahre Avus heraus.

Die Avus hat nicht nur überregionale Bedeutung, sagt Ulf Schulz. Für ihn gehört sie zugleich zur lokalen Berliner DNA. „Mir geht es auch um eine emotionale Spurensuche“, sagt er. Schulz beschreibt, wie es ist, nach einer Reise über die A115 nach Berlin zurückzukehren. Der Berliner Bär von Renée Sintenis an der Stadtgrenze ist passiert, gleich darauf erscheint der einst knallig rote, heute nicht mehr genutzte Checkpoint Bravo mit Tankstelle und Raststätte – ein Gruß aus den unfassbar fortschrittsfrohen 1960er-Jahren. „Dann folgt eine ruhige Strecke, der lange Abschnitt der Avus durch den Grunewald“, sagt Schulz. Erst mal durchatmen! Bis die Tribüne linkerhand auftaucht, von der aus Fans die Rennen verfolgten. Virtueller Applaus bei der Einfahrt in die Stadt! „Schließlich ist das Dreieck Funkturm erreicht, und man taucht auf der A100 ein in ein Berlin, wie man es kennt: hektisch, voll, mit vielen Herausforderungen.“
Die Avus als emotionaler Durchlauferhitzer. Kann man so sehen, aber wer fühlt sich wirklich so? Das ist die Hauptaufgabe bei diesem verdrängten Jubiläum: einen grauen Gegenstand, wie ihn diese Autobahn darstellt, mit Glamour, Mythen und Bedeutung zu überzuckern. Nicht einfach in einer Zeit, in der das Autofahren genauso wie das Reisen mit dem Flugzeug Glanz verloren hat. Und allzu häufig einfach nur noch nervt.
Viele tödliche Unfälle
„Die Avus ist ein Grufti-Thema, das kaum noch jemanden interessiert“, meint Ulrich Kubisch. Der Mann, der bis 2016 rund 32 Jahre lang die Abteilung Straßenverkehr des Deutschen Technikmuseums geleitet hat, sitzt in seiner Wohnung in Charlottenburg. Vor ihm liegen mehrere Ordner voller Avus-Erinnerungen und Devotionalien: zum Beispiel ein Programm des ersten Rennens nach dem Zweiten Weltkrieg von 1951 mit einem Grußwort von Ernst Reuter. Schwarz-Weiß-Fotos, die Rennautos und Besuchermassen zeigen. Zeitungsausschnitte über Rennfahrer, die tödlich verunglückten. Zum Beispiel Jean Behra, der 1959 bei der einzigen Formel Eins auf der Avus starb. Der Franzose flog mit seinem Porsche über den Rand der Nordkurve und prallte gegen das Betonfundament eines früheren Flakturms. Die Avus, Straße des Vergnügens und des Todes.

Ulrich Kubisch ist froh, dass seit 1998 keine Rennen mehr auf der Avus gefahren werden. Der Lärm, der jeweils ganze Wochenenden lang in seine damalige Wohnung unweit vom Lietzensee schallte, sei nicht zum Aushalten gewesen, sagt er. Heute sammelt der gebürtige Bremer des Jahrgangs 1951 lieber historische Fahrräder. 70 alte Zweiräder hat er schon, die er zum Teil in der Werkstatt der Justizvollzugsanstalt Tegel aufarbeiten ließ. Doch so ganz kann Kubisch offensichtlich noch nicht loslassen. Ein Erinnerungsstück nach dem anderen blättert er auf.
„Berlin war das Silicon Valley der Autoindustrie“
„Eine Gruppe von wohlhabenden Motorsportbegeisterten, unter ihnen der Kaiser-Bruder Prinz Heinrich, rief am 23. Januar 1909 in den Räumen des Kaiserlichen Automobil-Clubs, Leipziger Straße 16, den Bau der Nur-Auto-Straße ins Leben“, berichtet der ehemalige Museumsmann. Sie gründeten die Avus GmbH, um ihresgleichen und anderen privilegierten Herrenfahrern im Grunewald einen exklusiven Tummelplatz zu schaffen. Ein weiteres Ziel war, Deutschland im internationalen Motorsport, der damals von Frankreich, Italien und England beherrscht wurde, konkurrenzfähig zu machen. Als nicht unerheblich galt auch, dass Berlin einer der wichtigsten Standorte der deutschen Automobilindustrie war.
Ulrich Kubisch hat mehr als hundert Berliner Unternehmen erforscht, die Autos, Nutzfahrzeuge, Motorräder herstellten – von den großen Firmen wie der NAG, die als Teil des AEG-Konzerns in Schöneweide produzierte und Siemens mit seinen Protos-Elektrowagen bis hin zu kleineren Fahrzeugschmieden wie Slaby-Behringer oder den Rumpler-Werken des jüdischen Unternehmers Edmund Rumpler, der im selben hochherrschaftlichen Mietshaus wohnte wie Kubisch heute – übrigens auf derselben Etage wie ein Richter des berüchtigten Volksgerichtshofs. Insgesamt gab es rund 200 Firmen dieser Art, sagt Ulf Schulz. „Berlin war das Silicon Valley der Autoindustrie.“
Damals konnten sich allerdings nur Reiche ein Automobil leisten. Als die Presse von dem Avus-Plan Wind bekam und Bürger ihre Stimme erhoben, hatten die Verantwortlichen ihre liebe Mühe, das Projekt der Öffentlichkeit zu verkaufen. Eine Straße nur für betuchte Menschen, auf der andere Fortbewegungsmittel nichts zu suchen hatten? Immerhin 60 Hektar Wald wurden gefällt. „Baummord!“ hieß es – Umweltprotest vor mehr als 110 Jahren. Die Verantwortlichen schafften es schließlich, einen Stimmungsumschwung herbeizuführen. Sie priesen das Projekt als eine „wertvolle Bereicherung des Berliner Straßennetzes“ an, sagt Ulrich Kubisch. 1913 begann tatsächlich der Bau. Im Ersten Weltkrieg ging das Projekt immer langsamer voran, woran auch der Einsatz von Zwangsarbeitern nichts ändern konnte. Erst als der Avus-Haupteigner, der Industrielle Hugo Stinnes, viel Geld beisteuerte, wurde die Kraftfahrstraße fertig.
Erst 1940 fiel die Mautpflicht auf der Avus weg
Doch schon bei der Eröffnung war klar, dass die Avus das Straßennetz keineswegs bereicherte. Anders als später die ersten Autobahnen diente sie jahrelang nicht dem öffentlichen Verkehr und dem Ziel, Orte zu verbinden, sondern vor allem als Renn- und Teststrecke. Zwar durften Autofahrer auf der Avus richtig Gas geben, während anderswo noch ein Tempolimit von 15 Kilometer pro Stunde bestand, berichtet Ulf Schulz. Zuvor war allerdings eine nicht unerhebliche Maut zu zahlen. „Anfangs kostete ein Fahrschein zehn Reichsmark“, so Schulz. Erst 1940 wurde die Mautpflicht aufgehoben.

Nach dem Krieg gab es weiterhin Autorennen. Doch die Bedeutung der Avus sank auf Provinzniveau herab, so Ulrich Kubisch. Der vierfache Weltmeister Stirling Moss bezeichnete sie als „schlechteste Rennstrecke der Welt“. 1995 gab es wieder einen tödlichen Unfall, der Brite Keith O’dor war der letzte Avus-Tote. Da war die Autobahn längst zu einem Alltagsgegenstand geworden. Pendler aus Wannsee oder aus dem Land Brandenburg fahren auf der A115 zur Arbeit, Berliner reisen in den Urlaub.


