Berlin-Kinder lernen neue Sprachen wie im Fluge, und doch müssen Eltern sich viele Jahre engagieren, damit eine bilinguale Erziehung gelingt. Die Professorin Natalia Gagarina forscht an der Humboldt-Universität über Sprachentwicklung und Mehrsprachigkeit. Im Interview erklärt sie, was Eltern wissen müssen.
Frau Gagarina, neulich traf ich auf dem Spielplatz eine Mutter, die aus Slowenien nach Berlin gekommen ist und mit ihrem zweijährigen Kind ausschließlich Deutsch spricht, obwohl die eigenen Deutschkenntnisse eher bescheiden sind. Tut diese Mutter ihrem Kind einen Gefallen?
Nein, sie schadet ihrem Kind sogar. Weil das Kind in einer sensitiven Phase des Spracherwerbs dauernd falsche Dinge hört, sich Fehler und einen seltsamen Akzent angewöhnt.
Sollten Eltern mit ihren Kindern die Sprache sprechen, die sie am besten können und die ihnen am nächsten ist?
Ja, denn Kinder, die gut in der Erstsprache sind, haben gute Voraussetzungen für das Erlernen weiterer Sprachen. Außerdem sind Familiensprachen wichtig für die Identität eines Kindes und eine intensive Eltern-Kind-Beziehung.
Natürlich brauchen alle Familienmitglieder eine Sprache, in der sie sich gut ausdrücken können. Aber sollten Eltern beide Sprachen gleichzeitig fördern – die Familiensprache und die deutsche Umgebungssprache?
Unbedingt. Von Geburt an sollten die Eltern viel mit ihren Kindern sprechen und dafür sorgen, dass sie oft und langfristig Kontakt zu ihrer Familiensprache haben. Durch die Großeltern, Freunde und besondere Freizeitaktivitäten. Simultan sollten eingewanderte Eltern organisieren, dass ihre Kinder so früh wie möglich auch Kontakt zur deutschen Sprache haben.
Aber wie soll das gehen, ganz praktisch, wenn die Kinder noch im Säuglings- und Kleinkindalter sind?
Die Eltern können sie in Krabbelgruppen gehen, sie stundenweise in die Obhut einer deutschsprachigen Tagesmutter geben. Und natürlich ist es extrem förderlich, wenn sie ihre Kinder früh und regelmäßig in die Kita bringen und sie an allen Gruppenaktivitäten teilnehmen lassen.
Reicht das, um zum Zeitpunkt der Einschulung gut genug Deutsch zu sprechen?
Je nachdem – die Sprachfähigkeit unserer Kinder hängt sehr von der Qualität und Quantität des sprachlichen Inputs ab, den sie in Familie und Kita bekommen. Wird viel vorgelesen, erklärt, über das Erleben der Welt gesprochen? Auch das entscheidet über die späteren Bildungschancen.
Aus wissenschaftlicher Sicht: Wie vollzieht sich die sprachliche Entwicklung der Kinder?
Es gibt Studien, die zeigen, dass französische Babys zum Beispiel anders lallen als deutsche. Bevor die Kinder selbst anfangen zu sprechen, haben sie schon eine genaue Vorstellung vom Klang ihrer Sprache. Mit drei Jahren kennen sie bereits die Grundlagen der Grammatik. Natürlich ist das ein unbewusstes Wissen, sie erschließen sich die Regeln aus den Sätzen, die sie hören.
Ein faszinierender Vorgang!
Kinder, die hier leben, sollten die deutsche Sprache schon in den ersten zwölf Monaten ihres Lebens hören. Denn unsere Studien zeigen, dass Kinder, die erst im Alter von drei Jahren in der Kita mit dem Deutschen anfangen, noch bei Schuleintritt hinter der monolingualen Norm liegen.

und leitet den Forschungsbereich Sprachentwicklung & Mehrsprachigkeit am Leibniz-Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft. Sie entwickelt Sprachstandserhebungen für Vorschul- und Grundschulkinder und ist Mitgründerin des BIVEM, einem interdisziplinären Verbund für Mehrsprachigkeit. Gagarina ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Aber Kinder lernen doch neue Sprachen viel schneller als ältere Jugendliche und Erwachsene, oder?
Ja, aber die Sprache verblasst auch schnell wieder, wenn sie nicht verwendet wird. Zwei Beispiele für das Prinzip „Use it or lose it“: Ein zweijähriger Junge verbringt acht Wochen in der Türkei und spricht mit seinen Verwandten ausschließlich Türkisch. Als sein Vater aus Deutschland anruft, versteht er kein Deutsch mehr. Oder: Eine alleinerziehende Mutter hat kaum noch Zeit, mit ihrer Tochter Russisch zu sprechen und die kann im Russischen dann keine Fälle mehr bilden. Experten nennen das auch die „Erosion“ der Sprache.
Eine alte Faustregel lautet: One person, one language! Es sei gut, wenn zum Beispiel die schwedische Mutter immer Schwedisch spricht mit ihren Kindern und der italienische Vater immer Italienisch. Gilt diese Regel noch?
Also grundsätzlich sollten die Eltern konsequent sein bei der Sprachenverwendung. Aber wenn die Kinder zu beiden Sprachen aktiven Kontakt haben, können die Eltern auch mal die Sprachen wechseln
Das stört keinen großen Geist.
Viele Eltern haben Angst, ihre Kinder zu verwirren, wenn sie unterschiedliche Sprachen mit ihnen sprechen. Aber das ist kein Problem für die Kinder, vorausgesetzt, dass in den Familien viel gesprochen wird.
Kommt es zu Verzögerungen bei der sprachlichen Entwicklung, wenn die Kinder zwei oder mehr Sprachen simultan lernen?
Nein, wenn es zu Verzögerungen in der sprachlichen Entwicklung eines Kindes kommt, dann hat das andere Ursachen als die Mehrsprachigkeit.
Bis zu welchem Alter können Kinder und Jugendliche eine Sprache akzentfrei lernen?
Forscher sagen, bis zum Alter von zehn, zwölf oder fünfzehn Jahren. Erwachsene, die viel Zeit auf das Erlernen einer neuen Sprache verwenden, können am Anfang rasch Fortschritte machen, aber sie werden in der Regel mit Akzent sprechen.
Sie sagen, die bilinguale Erziehung eines Kindes bedeutet mindestens 15 Jahre harte Arbeit für die Eltern. Warum?
So lange müssen Eltern sich darum kümmern, dass ihre Kinder einen ausbalancierten Kontakt zu beiden Sprachen haben. Nur dann verfügen sie über eine nachhaltige und tiefe Kenntnis von beiden Sprachen – können sie sprechen, schreiben, in ihr denken und träumen.
15 Jahre, das ist eine lange Zeit!
Das Mündliche können die Kinder in der Familie lernen – aber um lesen und schreiben zu lernen, braucht man schulischen Unterricht. Und nur durch den Umgang mit Texten gelingt der sogenannte akademische Spracherwerb. Nach dem Linguisten Tom Cummins brauchen Schüler mit Migrationshintergrund fünf bis sieben Jahre, um sich das Deutsche als Bildungssprache zu erobern und sich in akademischen Aspekten der Klassennorm anzunähern.
Früher sind ja die Kinder mit Migrationshintergrund oft in die Sonntagsschule gegangen, um in ihren Familiensprachen lesen und schreiben zu lernen: Ist das genug?
Für begabte Kinder und eine erste Begegnung mit der Schriftsprache mag das reichen, in der Regel ist es zu wenig.
Wie häufig sind mehrsprachige Familien eigentlich?
Weltweit ist über die Hälfte der Menschen mehrsprachig, in Berlin wachsen rund vierzig Prozent der Schüler mehrsprachig auf.
Können Sie sagen, warum es sich für Eltern und Kinder lohnt, die Mühen einer mehrsprachigen Erziehung auf sich zu nehmen?
Weil sie die Leistung des Gehirns und die Kreativität positiv beeinflussen kann. Mehrsprachigen Kindern fällt das Lernen weiterer Sprachen leichter. Sie haben mehr berufliche Perspektiven, können leichter in verschiedene Kulturen eintauchen und sorgen für Vielfalt in unserer Gesellschaft.
