Nach ersten Schätzungen leben jetzt 25.000 ukrainische Flüchtlingskinder in Berlin. Wie soll die Stadt mit dieser großen Herausforderung umgehen? Wir haben Menschen gefragt, die sich mit Integration auskennen –aus eigener Erfahrung, durch ihr Nachdenken und berufliches Handeln - sieben Fragen für eine bessere Integration. Hier antwortet Maja Lasić, die frühere bildungspolitische Sprecherin der SPD.
1. Können die ukrainischen Kinder auf beides vorbereitet werden – auf die Rückkehr in ihr Heimatland und ein mögliches Leben in Deutschland?
In meinem Herkunftsland Bosnien wird heute ein hoher Anteil des Bruttoinlandprodukts durch Wirtschaftszweige erzeugt, die Dienstleistungen im deutschsprachigen Markt anbieten, angefangen von der Autozuliefererindustrie bis hin zu ausgelagerten Callcenter-Angeboten. All dies konnte nach dem Krieg nur aufgebaut werde, weil ganze Generationen von jungen Erwachsenen in Bosnien ihre Zeit als Geflüchtete im deutschsprachigen Raum verbrachten und die deutsche Sprache auf Muttersprachenniveau beherrschen. Nicht anders wird es den heutigen ukrainischen Kindern gehen. Sie profitieren vom Integrationsprozess so oder so: Entweder werden sie Teil unserer Gesellschaft oder tragen ein unschätzbares Bildungskapital mit in ihre Heimat zurück.
2. Sollten alle geflüchteten Schulkinder in Willkommensklassen gehen?
Nein, denn in den ersten Schuljahren verläuft das Erlernen der deutschen Sprache intuitiv, da sind die Kinder im „Sprachbad“ der Regelklasse bestens aufgehoben. Erst ab dem Übergang in das weiterführende System ist eine vorbereitende Sprachbildung sinnvoll und auch der Rückzugsraum einer Willkommensklasse für die heranreifenden Jugendlichen hilfreich. Kinder, die kurz vor dem Abschluss stehen, sollten diesen jedoch im ukrainischen System absolvieren können, da der Reibungsverlust beim Übergang ins deutsche System unvermeidbar ist und das Erreichen der Abschlüsse sowie eine anschließende Integration für die Betroffenen das günstigere Szenario darstellt.
3. Wenn Sie Berlins Bildungssenatorin wären: Was würden Sie jetzt tun?
Das bevorstehende Jahr als Vorsitzende der Kultusministerkonferenz nutzen, um das Jahr der Einwanderung auch im Bildungsbereich einzuleiten. Zahlreiche Debatten, die nur einheitlich innerhalb der Kultusministerkonferenz geklärt werden können, treten seit Jahren auf der Stelle, um nicht zu sagen: seit Jahrzehnten.
Erstens sollten wir Ein-Fach- und Zwei-Fach-Lehrkräfte gleichstellen, um die Eingliederung der eingewanderten Pädagogen zu erleichtern. Zweitens sollten wir die Herkunftssprachen der eingewanderten Schülerinnen und Schüler als erste Fremdsprache anerkennen, um ihnen den Übergang ins deutsche System weniger schwer zu machen. Drittens sollten wir eine bundesweite Fortbildungsoffensive in DaZ (Deutsch als Zweitsprache) starten für die normalen Fachlehrkräfte, damit sie in Willkommensklassen eingesetzt werden können und geschickter werden im Umgang mit eingewanderten Kindern und Jugendlichen. Das wäre eine wunderbare Chance für unser Land, wenn wir die aktuellen Herausforderungen für die Weiterentwicklung unseres Systems nutzen würden!
4. Wie können wir mehr Räume gewinnen und mehr Menschen, die erziehen und unterrichten?
Die Raumfrage lässt sich ohne temporäre Bauten, also Container und mobile Ergänzungsbauten (MEB) an bestehenden Schulstandorten, nicht beantworten. Angesichts dieser Bedarfe wirkt es anachronistisch, dass im aktuellen Haushaltsentwurf die Mittel für MEB um ein Drittel gekürzt sind. Diese Einsparung ist nicht nachvollziehbar und muss vom Parlament korrigiert werden.
Neue Lehrer kann man sich leider nicht backen, aber man kann die starre Trennung zwischen dem Regel- und Willkommenssystem aufbrechen und Regelfachkräfte in Willkommensklassen einsetzen. Diese müssen dann entsprechend fortgebildet werden (siehe Frage drei!). Viele Lehrkräfte im Regelsystem arbeiten schon lange mit DaZ-Instrumenten. Durch das Aufheben der Trennung gewinnen wir zwar keine zusätzlichen DaZ-Lehrkräfte, aber die Herausforderung des Fachkräftemangels wird nicht selektiv vom Willkommenssystem getragen, sondern solidarisch auf das gesamte Schulsystem verteilt. Nur so schaffen wir es.
5. Was sind Ihre persönlichen Berührungspunkte mit dem Thema „Einwanderung“?
Ich selbst bin Teil einer früheren Fluchtbewegung, meine Familie floh vor den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien. Als 14-jähriges Mädchen durfte ich den Ankommensprozess der Willkommens- und Regelklassen durchlaufen – eine Erfahrung, die mich für mein weiteres Leben geprägt und politisiert hat. Die Chancenungleichheit im Berliner Bildungssystem war der Schwerpunkt meiner Arbeit als Abgeordnete. Als Lehrerin macht es mir großen Spaß, auch Kinder und Jugendliche zu unterrichten, die die Erfahrung der Transidentität und des Ankommens in einer neuen Kultur mit mir teilen.
6. Gibt es schon ukrainische Kinder in Ihrem Umfeld? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ja, in meinem privaten und beruflichen Umfeld habe ich schon mit ukrainischen Kindern Kontakt. Wir befinden uns in einer frühen Phase: Im Kopf und im Herzen sind die Betroffenen immer noch in ihrer früheren Heimat. Wir müssen aber jetzt schon die Weichen richtig stellen, damit das behutsame Ankommen spätestens im Sommer beginnen kann. Es wird schwer genug.
7. Worauf müssen wir achten, damit die Integration wirklich gelingt?
Integration aus der Perspektive der Geflüchteten in fünf Jahren planen. Der Blick der Betroffenen unterliegt im Verlauf der ersten Jahre einem massiven Wandel – der heutige Impuls, vollständig im Herkunftssystem zu verharren, wird so nicht bleiben. Unser Land muss es daher schaffen, das Ankommen zu ermöglichen und zeitgleich die Wertschätzung der Herkunftskultur aufrechtzuerhalten. Das ist kein unmögliches Unterfangen und wir stehen auch nicht am Anfang. Ich wünsche mir Mut, Kreativität und Tatenfreude bei den Entscheidern: Dann wird die Integration der Geflüchteten ein Erfolg.

