Interview

Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse: „Berlin ist nicht Bad Kissingen!“

Bilanz nach einem Jahr: Nach den heftigen Turbulenzen der letzten Wochen spricht die Bildungssenatorin über die großen Herausforderungen des Berliner Bildungssystems.

Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse beim Interview in ihrem Büro in der Nähe des Alexanderplatzes
Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse beim Interview in ihrem Büro in der Nähe des AlexanderplatzesBerliner Zeitung/Markus Wächter

Das Schuljahr ist auf der Zielgeraden, am Mittwoch beginnen die großen Ferien. Im Büro der Bildungssenatorin sprechen wir über den Missbilligungsantrag der CDU, die Integrationskraft des Berliner Bildungssystems und coronagebeutelte Kinder.

Frau Busse, Ihr SPD-Kollege Torsten Schneider hat sich neulich dafür bedankt, dass Sie sich richtig reinhängen in den Moloch der Berliner Bildungsverwaltung. Wie geht es Ihnen nach sechs Monaten im sogenannten Moloch?

Mir geht es sehr gut. Und das ist kein Moloch – das will ich mal zurückweisen, sondern ein großes Haus mit sehr vielen interessanten Frauen und Männern. Jeden Tag kann ich neue Kolleginnen und Kollegen kennenlernen bei den vielen Terminen. Ich fühle mich hier sehr wohl und bin sehr gerne Senatorin.

Sie haben das Amt der Schulsenatorin als Quereinsteigerin übernommen. Quereinsteiger haben ja oft die Gabe, mit dem „fremden Blick“ auf eingeschliffene Strukturen zu schauen. Was sehen Sie?

Als Quereinsteigerin bin ich in die Politik gekommen, da haben Sie völlig recht. Und natürlich lerne ich noch dazu. Aber in diesem Haus fühle ich mich nicht fremd, denn ich habe ja schon vierzig Jahre lang Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, eine sehr gute und seltene Voraussetzung für dieses Amt. Und als Vorsitzende eines großen Schulleitungsverbandes war ich regelmäßig im Austausch mit den Abteilungsleitern, man hat mir hier einen guten Übergang bereitet und mich mit einer großen Torte empfangen: „Herzlich willkommen“ stand da drauf.

Sie waren früher sehr offen der Presse gegenüber und für Ihre Berliner Schnauze bekannt. Kann man sich als Senatorin noch leisten, eine Berliner Schnauze zu haben?

Was verstehen Sie denn jetzt unter einer Berliner Schnauze? Ich bemühe mich ja doch des Hochdeutschen, natürlich kann ich auch berlinern, aber das habe ich nie in Interviews getan – Sie meinen wohl, mich offen zu äußern?

Und mit der Neigung, immer ein paar freche Sprüche rauszuhauen.

Das mache ich immer noch gern. Aber natürlich muss ich jetzt als Senatorin anders sprechen als in der Zeit, als ich noch Vorsitzende des Schulleiterverbandes war. Zum Beispiel kann ich jetzt nicht mehr so einfach das Wort „Forderung“ in den Mund nehmen – früher konnte ich viel wünschen, denn ich musste nicht dafür sorgen, dass es umgesetzt wird.

Waren Sie erstaunt, dass die CDU einen Missbilligungsantrag gegen Sie gestellt hat?

Ich dachte: Sind die denn gar nicht beraten worden? Absurd, dass da Vorwürfe erhoben wurden, für die ich wirklich keine Verantwortung trage in meiner bisher kurzen Amtszeit. Von wegen, dass wir nicht genug Personal haben! Aber ich muss diesen Moment jetzt nicht jede Woche aufs Neue erleben. Ich hätte natürlich gerne selbst im Plenum etwas dazu gesagt, bin aber dankbar, dass das meine Parteifreunde übernommen haben.

Astrid-Sabine Busse
Astrid-Sabine BusseBerliner Zeitung/Markus Wächter
Zur Person
Astrid-Sabine Busse wurde 1957 in Berlin-Tempelhof geboren und ist seit Dezember 2021 Bildungssenatorin im Kabinett von Franziska Giffey. Sie studierte an der Pädagogischen Hochschule in Marienfelde Geografie. Als Lehrerin arbeitete sie an zwei Neuköllner Schulen und studierte bis zur Zwischenprüfung am Otto-Suhr-Institut Politologie. Dreißig Jahre lang leitete sie die Grundschule an der Köllnischen Heide, sechs Jahre war sie Vorsitzende des Interessenverbands der Berliner Schulleitungen (IBS).

Was sind für Sie die fünf größten Herausforderungen des Berliner Bildungssystems?

Die größte Herausforderung ist die Personalgewinnung – und natürlich die Qualität des Unterrichts, die muss sich verbessern. Die Schulbauoffensive ist ebenso von zentraler Bedeutung, aber die läuft. Es vergeht keine Woche, wo ich nicht einen Grundstein lege oder einen Richtkranz nach oben schweben lasse. Zudem widmen wir uns intensiv der Schuldigitalisierung und dem Kita-Ausbau. Wir haben schon die gigantische Zahl von gut 2800 Kitas in der Stadt, da ist Berlin ganz weit vorne.

Trotzdem gibt es noch viele Kinder aus migrantischen Familien, die nicht in die Kita gehen können, weil sie keinen Platz finden – und dann bei der Einschulung nur wenig Deutsch sprechen. War das an Ihrer Schule nicht auch so?

Unsere Kinder waren vorher zu 98 Prozent in der Kita.

Was muss man als Schulleiterin machen, um migrierte Kinder noch besser zu integrieren und zu fördern? Und wie würden Sie Ihre Erfahrungen von früher in Politik übersetzen?

Man braucht Ganztagsschulen, die ihren Namen verdienen. Einen guten Wechsel von Anspannung und Entspannung. Dann braucht man gute Elternarbeit, Ferienschulen und Unterstützungssysteme wie diejenigen, die wir im Rahmen des Programms „Stark trotz Corona“ geschaffen haben.

Sind die Berliner Kinder noch sehr coronagebeutelt?

Corona hat bei allen tiefe Spuren hinterlassen. Das Versäumte wieder aufzuholen, das ist selbst mit dem besten Aufholprogramm nicht komplett zu schaffen. Und schon gar nicht in einem einzigen Jahr.

Dass die seelischen Verletzungen dramatischer sind als gedacht, die Lernrückstände größer als noch vor sechs Monaten, was bedeutet das für ein mögliches Corona-Aufholprogramm Numero zwei?

Der Bund hat schon gesagt, dass er das Programm im Bereich Jugend und Familie verstetigt. Und darüber bin ich sehr froh!

Bei meiner letzten Abfrage im Mai waren in Berlin erst 43 Prozent der Bundesmittel für Lernförderung abgeflossen.

Inzwischen sind wir bei deutlich über 50 Prozent.

Die Hälfte ist nicht genug. Könnten Sie nicht dafür sorgen, dass das Geld schneller abfließt und die Hilfe schneller bei den Kindern ankommt? Vielleicht sollte man in der nächsten Runde auf die sehr bürokratische Abwicklung über die Eureka-Datenbank verzichten?

Die Entscheidung zur Nutzung der komplexen Datenbank habe ich nicht getroffen. Mittlerweile weiß ich, dass es auch Rahmenbedingungen gab, die Berlin beachten musste. Denn Bundesmittel müssen immer besonders akkurat abgerechnet werden. Inzwischen läuft es besser.

Aber Berlin hat es diesmal besonders genau genommen, andere Bundesländer haben sich nicht so gefesselt.

Solche Programme und die Abrechnungsmodalitäten zeigen auch, dass wir in Berlin mit der Einführung der Verwaltungsleitungen an Schulen den richtigen Weg gehen, um das pädagogische Personal von solchen Aufgaben zu entlasten.

Nach dem Gespräch
Nach dem GesprächBerliner Zeitung/Markus Wächter

Frau Scheeres hatte ein Team um den renommierten Bildungsforscher Olaf Köller gebeten, das Berliner Bildungssystem zu prüfen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Was halten Sie von Köllers Vorschlägen?

Bildung beginnt nicht erst in der Schule, sondern schon in der Kita. Ich kann nicht in der ersten Klasse noch mal gucken, was Kreuz, Kreis und Dreieck ist. Es gibt einfach Basiskompetenzen, die ein Kind in die Schule mitbringen muss. Auch diesen Aspekt hat die Köller-Kommission in den Blick genommen. Weiterbildung ist ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir müssen Multiplikatoren haben in den Schulen. Vorbild sind für mich die Sprachbildungskoordinatoren. Von denen habe ich viel gelernt. Das erhoffe ich mir auch im IT-Bereich. Dass man da als Lehrerin einfach zu seiner Kollegin gehen und um schnelle Hilfe bitten kann.

Aber was sagen Sie zu dem ungeheuren Missverhältnis zwischen Input und Output? Dazu, dass Berlin bundesweit am meisten ausgibt pro Schüler und die Leistungen immer noch sehr bescheiden sind?

Berlin ist nicht Bad Kissingen! Ich will nicht despektierlich gegenüber Bad Kissingen sein. Aber das hier ist eine Fast-vier-Millionen-Metropole mit besonderen Bevölkerungsstrukturen. Gestern habe ich wieder Schülern die Hand geschüttelt, die bei der Mathe-Olympiade gewonnen haben. So schlecht kann unser System nicht sein, wenn es so viele Preisträger hervorbringt.

Zugleich berichtet der legendäre Berliner Schulleiter Michael Rudolph, dass ein Drittel der Sechstklässler, die zu ihm an die Sekundarschule kommen, auf die Frage „Was ist 3 mal  9?“ keine Antwort weiß.

Solche Kinder haben wir aus unserer Schule nicht weitergegeben. Die wussten, was 3 mal 9 ist … Aber wir müssen darauf achten, dass wir regelmäßig den Lernstand erheben. Das ruhige Mädchen hat mein Gehirn vielleicht gar nicht als besonders schwache Schülerin gespeichert, aber nach der Lernstandserhebung sehe ich genau, wo die Defizite liegen. Die wichtigste Stellschraube für eine gute Schule aber ist die Schulleitung, die muss alle mitnehmen und die neuen Kollegen gut und eng betreuen.

Wenn es überhaupt genug neue Kollegen gibt! Was glauben Sie, warum brechen so viele junge Leute ihr Studium ab und gehen dem Lehrerberuf auf dem langen Ausbildungsweg verloren?

Mehrere Gründe sind das. Auch wieder die Pandemie. Die jungen Leute haben zwei Jahre gar keine Uni von innen kennengelernt. Die Abiturienten sind jünger, als wir es waren. Auch habe ich mich gefragt, warum die Unis keinen Wechselunterricht angeboten haben? Dann hätten wir vielleicht nicht ganz so viel Nachwuchs verloren. Dann glaube ich, dass die Studenten früher reinschnuppern müssen in die Praxis und dass wir etwas für die gesellschaftliche Stellung der Lehrerinnen und Lehrer tun müssen. Das ist so ein wichtiger Beruf und er kann auch wunderschön sein. Aber wir sind ja ständig Anwürfen ausgesetzt.

Die Lehrer, die jetzt an Berliner Schulen anfangen, können gleich verbeamtet werden. Wann sind die anderen dran?

Am liebsten morgen alle. Aber das ist ein langer und feiner Abstimmungsprozess zwischen mehreren Senatsverwaltungen. Doch nun bin ich erst mal froh, nächste Woche den neuen Kolleginnen und Kollegen feierlich ihre Urkunden überreichen zu können.

Muss man nicht noch kreativer darüber nachdenken, wie man mehr Personal gewinnen und halten kann?

Wir werben ja: Der Berlintag mit 3000 Gästen ist die größte Personalgewinnungsmesse des Landes. Wer länger arbeiten will, kann das tun, wer aufstocken will, kann das tun, Mehrarbeit wird sofort bezahlt.

Meine These lautet: Schule in Deutschland hat im Grunde 30 Jahre Organisationsentwicklung versäumt. Der Arbeitsplatz, den sie anbietet, passt nicht mehr zu den Fantasien der jungen Leute und den modernen Lebensläufen. Viele wollen nach dem Abitur erst einmal in die Welt hinaus, sich ausprobieren. Das Lehramtsstudium ist oft nur eine Art Fallbackoption für sie. Umgekehrt gibt es viele Menschen in der Lebensmitte, die die guten Seiten des Lehrerberufs für sich entdecken. Vielleicht müssen wir anerkennen, dass das Unterrichten von einer Lebensaufgabe zu einer Lebensabschnittsaufgabe geworden ist – und Rahmenbedingungen schaffen, die die Ein- und Ausstiege erleichtern. Denken Sie zum Beispiel über den Abschied vom Zwei-Fach-Lehrer nach?

Bestenfalls sind Lehrkräfte intrinsisch motiviert und brennen für ihre Aufgabe. Wir sind auf jeden Fall noch nicht am Ende mit unseren Maßnahmen. Und um eine verbesserte Lehrerbildung zu erreichen, bin ich mit der Wissenschaftsverwaltung und den Universitäten im Austausch. Aber nachdenken werden wir über vieles. Und es wird auch einen Runden Tisch geben hier im Haus.

Einen Runden Tisch zum Thema Lehrkräftemangel? So wie vom Landeselternausschuss gefordert?

Einen Runden Tisch zum Thema Zukunft des Lernens und Lehrens  – um Ideen zu sammeln und noch kreativer darüber nachzudenken, wie man Personal gewinnen und den Unterricht zeitgemäßer gestalten kann.