Haltbare Analyse: „Rückkehr nach Reims“ in der Schaubühne
Die Premiere ist schon wieder fünf Jahre her, aber das, worauf sie reagiert, scheint sich immer weiter zu verfestigen und zu verselbstständigen. Die autobiografisch angelegte Analyse „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon diagnostiziert mit genauem Blick und theoretischem Besteck eine Verschiebung der gesellschaftlichen Debatte. Nicht mehr die fassbaren Klassenunterschiede, in denen sich die Verteilungskonflikte widerspiegeln, stehen im Vordergrund, sondern Identitätsdiskussionen und eine Verschiebung der Verantwortung hin zum Individuum. Das macht die Welt eher nicht gerechter, aber auf jeden Fall komplizierter.

Thomas Ostermeier hebt die Beobachtungen und Thesen von Eribon in den Reflexionsrahmen der Kunst, indem er die Geschichte von Menschen erzählt, die aus dem Buch einen Film machen wollen. Die Eitelkeiten der Künstler schieben sich immer mehr zur Seite und hervor scheinen ihre eigenen Geschichten und Verwickeltheiten. Wer hat die Deutungshoheit, welche narrativen Strategien führen zur Verfestigung der Unterschiede, wo verzetteln wir uns in falschen Empfindlichkeiten. Ein nachdenklicher Abend, der noch gereift sein dürfte. Ulrich Seidler
Rückkehr nach Reims. 21.–24. Jan., jeweils 20 Uhr in der Schaubühne, Karten unter Tel.: 89 00 23 oder: schaubuehne.de
Konzert: Loyle Carner in der Columbiahalle
Dass Loyle Carner die Lyrik lieben lernen würde, stand nicht unbedingt in den Sternen: Schon als Kind wurde er verhaltensauffällig wegen seiner Lese-Rechtschreib-Schwäche, kombiniert mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Andererseits war das auf dem Pausenhof seine Waffe: den anderen Jungs mit seinen Rap-Flows etwas entgegenzuhalten. Später hat er dann auf Spotify vertonte, ja, verjazzte Lyrik des amerikanischen Dichters Langston Hughes für sich entdeckt, einer Ikone der Harlem Renaissance. All dies hört man auch seinen Tracks auf seinem aktuellen dritten Album „Hugo“ an.
Schon im Upbeat-Rap-Track „No CD“ auf Loyle Carners erstem Album „Yesterday’s Gone“ 2017 konnte man spüren, dass er sich kritisch mit überkommenen Vorstellungen von Männlichkeit auseinandersetzt, etwa als er dazu aufrief, mehr Rückgrat zu zeigen als die Homophoben: „Keep your spine straighter than a blind homophobic“. Und auch auf „Hugo“ arbeitet sich Loyle Carner (der im sogenannten echten Leben übrigens Benjamin Coyle-Larner heißt und seine Initialen als Verweis aufs ADHS vertauscht hat) an Männlichkeiten ab – zumal er selbst zwei Väter verloren hat (der leibliche verließ die Familie, der Stiefvater starb) und er nun selbst ein junger Vater ist.
In seinen Tracks zwischen Grime und Gospel, die auch den Sound des frischen, jungen Londoner Jazz ein- und ausatmen, geht es Loyle Carner darum, Gewaltkreisläufe zu durchbrechen („Hate“) und Frieden mit einer eigenen (in seinem Falle: mixed-race) Identität zu finden. Ein fantastisches Album, das auch Fans von Kendrick Lamar lieben dürften, denn Loyle Carner ist quasi der jüngere britische Kendrick. Und auch live in der Columbiahalle wird das sicher großartig, um nicht (Stichwort Silbentausch) zu sagen artgroßig. Stefan Hochgesand
Columbiahalle, Columbiadamm 13, Tempelhof, Freitag, 20. Januar, 20 Uhr, VVK 49 Euro
Alte Nationalgalerie: Noch vier Spiegel-Wochen für Schadows Prinzessinnen

Die Zeit fliegt nur so. Gerade hatte sich doch die Begeisterung über Johann Gottfried Schadows außergewöhnliche Figuren-Kunst Bahn gebrochen, standen Fans des klassizistischen Meisters der Berliner Bildhauerkunst vor der Alten Nationalgalerie Schlange. Nun geht die einzigartige Schau der Kuratorin Yvette Deseyve schon wieder ihrem Ende zu. Vier Wochen lang haben wir auch an den Wochenenden noch Gelegenheit und Muße, diese Stein gewordene Anmut zu sehen. Die preußischen Prinzessinnen Luise und Friederike stehen, von Schadow in Gips und weißem fein geäderten Carrara-Marmor verewigt, ganz oben im Museum vor verspiegelten Wänden. So sah man sie noch nie: vervielfältigt durch die optische Täuschung, anmutig in der Blüte ihrer Mädchenzeit.
Schadow (1764–1850) hat anno 1795 und 1797 nichts Kapriziöses in Gesichter und Haltung der Kindfrauen hineingelegt, auch keine zur Schau gestellte Pose. Ganz natürlich sehen sie aus, so, als würden sie sogleich kichern, einen Schabernack anstellen, unbeschwert spielen. Seit der Antike waren Grazie oder Anmut ein Begriff der philosophischen Ästhetik, als Form des Schönen, Bewegten. Der preußische Hof-Bildhauer der Klassizismus-Epoche zeigte die Zärtlichkeit der Berührung, die Zuneigung der Schwestern, denen das Schicksal sehr unterschiedliche Leben bestimmt hatte. Schadow hat die Unterschiede der beiden deutlich gemacht, die Mimik – ernst, mehr vom Leben wissend bei der Älteren, kindlich verträumt bei der Jüngeren, von der großen Schwester, die bald Königin werden muss, fürsorglich umarmt. Ingeborg Ruthe
Berührende Formen. Alte Nationalgalerie Berlin, Museumsinsel, bis 19. Februar, Di.–So. 10–18 Uhr
Kurzfilmfestival British Shorts
Big Budget, low Budget, no Budget: Insgesamt 150 britische und irische Kurzfilme verschiedener Genres sind vom 19.–25. Januar in Berlin zu sehen. Vorführungen gibt es wie schon in den vergangenen Jahren im Sputnik als Zentrum des Festivals, im City-Kino Wedding und im Acud-Kino zu sehen – zum ersten Mal macht auch das Kino Intimes in Friedrichshain eine Leinwand frei. Zahlreiche Filmemacher und Schauspieler reisen an, um mit dem Publikum über ihre Werke zu sprechen, darunter auch der Comedian Joe Lycett und Oliver Sim von der Band the XX. Kurzentschlossene aspirierende Filmemacher können sich noch für einen kostenlosen dreitägigen Workshop auf Englisch bei den britischen Filmdozenten Dave Green und John Digance anmelden. Die kurzen Filme, die in diesem Rahmen zum Thema „Dreaming the City“ entstehen, werden anschließend in der Gruppe analysiert. Claudia Reinhard
British Shorts. 19.–15. Januar im Sputnik-Kino, Acud-Kino, City-Kino Wedding und Kino Intimes, hier gehts zum Programm, hier gibt es Infos zum Workshop
Haus der Berliner Festspiele: Tanzreise mit dem „Lovetrain2020“
Kaum hatte der israelische Tänzer und Choreograf Emanuel Gat 2004 seine eigene Kompanie gegründet, die Emanuel Gat Dance, bekam er den Kulturpreis des Staates Israel für außergewöhnliche Tanzstücke. Wäre der Trupp nicht bereits 2007 nach Frankreich gezogen, hätten sie noch fast jedes Jahr „für außergewöhnliche Tanzstücke“ ausgezeichnet werden können, denn so wie Gat die Körper seines Ensembles in Bewegung setzt, fällt das immer auf. Es gab zu Recht andere Preise.
Emanuel Gat, geboren 1969, selbst lang Tänzer, wählt Musik vom Mittelalter bis in die Gegenwart, kombiniert Strawinsky mit Salsa, wechselt zwischen Mozart und Electronic. Das jüngste Stück von Emanuel Gat Dance trägt, ein genrefremdes Publikum einladend, den Untertitel „Musical für 14 Tänzer*innen“. Es heißt „Lovetrain2020“, die Jahreszahl steht für die Uraufführung zur Corona-Zeit in Montpellier und das Wort verweist auf die Musik: Sie stammt vom britischen Pop-Duo Tears für Fears aus den 1980er-Jahren. „Shout“ oder „Everybody Wants to Rule the World“. Sie erinnern sich sicher! Licht, Musik, Kostüme, sprechende Körper: Das ist ein Gesamtkunstwerk von 75 Minuten. Cornelia Geißler
Lovetrain2020. Sonnabend 21.1., 19.30 und 22 Uhr, Haus der Berliner Festspiele
Billiger Hedonismus, der so billig gar nicht ist
Von Instagram kennt man Monty Richthofen alias Maison Hefner vor allem durch seine prägnanten Kritzeltattoos – von Sätzen, die mit der bleibenden Form des Tattoos selbst spielen („Felt cute might delete later“) oder Geschichten antizipieren, die merkwürdig abstrakt und dennoch vertraut wirken („Touch my heart the same way (again)“).

Bei Dittrich & Schlechtriem kann man ab diesem Wochenende jetzt Richthofens erste Einzelausstellung sehen. „Cheap Hedonism“ enthält eine Reihe von Textbildern des Künstlers sowie Arbeiten aus Papier. Darunter etwa ein quadratisches Gemälde, auf dem neben- und übereinander angeordnet Post-its kleben wie To-do-Notizen mit Sätzen, die – ähnlich wie auch Richthofens Tattoos – mit halb ironischer Gelassenheit den Zeitgeist freilegen und einiges über den Seinszustand der von dauerverfügbaren Selbstdarstellung geplagten Generation der (wie er selbst) Mittzwanziger aussagen. Das Kernstück der Ausstellung „Cheap Hedonism“ ist ein in hartem Kontrast mit schwarzer Sprayfarbe auf blutrotem Untergrund gesprühter Schriftzug, der die feinsäuberlich abgesteckten Konventionen der Kunstwelt mit der nötigen Prise Punk konfrontiert. Hingehen!
Hanno Hauenstein
Cheap Hedonism. Monty Richthofen, Dittrich & Schlechtriem, Linienstraße 23. Eröffnung am Freitagabend, 18–20 Uhr.
Empfehlungen aus dem Ticketshop:
Special: Aktuell läuft der Vorverkauf für die Madonna-Tour 2023. Tickets HIER.
Und für dieses Wochenende empfehlen wir:







