Kolumne

Thilo Mischke: Wie ich Flüchtlinge aus Butscha traf und wieder Alkohol trank

Unser Kolumnist fragt sich: Was macht es mit uns, wenn Krieg und Leid plötzlich ganz nah sind? Es verändert uns, aber es ändert nichts.

Der Kolumnist Thilo Mischke
Der Kolumnist Thilo MischkePrivat

Ich bin wirklich kein guter Kneipengänger. Wenn ich mich mit Menschen in Cafés, Restaurants oder, ja auch, in Berliner Eckkneipen treffe, trinke ich keinen Alkohol. Nicht weil ich Alkohol verachte oder ihn nicht kontrollieren kann, sondern weil er mir einfach nicht schmeckt. Ich trinke dann KiBa oder manchmal Apfelschorle, damit nicht alle immer fragen, ob ich nicht doch ein Bier möchte.

In der letzten Woche aber, da habe ich zwei Glas Weißwein getrunken, hintereinander. Ich wollte diese nebelige Abwesenheit, die Alkohol verspricht. Ich wollte meine Ruhe vor der Wirklichkeit, in einer Kneipe in der Torstraße, gemeinsam mit einer Gruppe Menschen, die ich flüchtig, aber gut genug kenne, um ohne fremdelnde Attitüde mit ihnen zu sprechen.

Die größte Lüge der Jugend

Als ich die Tür aufstoße, sehe ich junge Gäste an Tischen, denen ich die größte aller Lügen der Jugend ansehen kann: den unzerstörbaren Glauben daran, dass alles immer so bleiben wird, wie es gerade ist. Sie trinken und lachen, sie rauchen unvernünftig, bis die Zähne stumpf sind. Zigaretten werden ausgedrückt und neue werden sich augenblicklich angesteckt. Ich atme tief ein, weil mir, als ehemaligem Raucher, der Geruch fehlt. Ich atme schwer aus, schiebe die Füße unter den Tisch und beobachte die Gruppe Menschen, mit der ich hier bin. Sie diskutieren aufgeregt an den Strohhalmen ihrer Gin Tonics vorbei.

Ich bin zu Hause, denke ich. Ich bin in Sicherheit.

24 Stunden zuvor war ich noch in El Salvador, ein entrücktes Land in Mittelamerika. 24 Stunden vorher hat noch ein Mann mit mir gesprochen, der um sein Leben fürchtet, weil auf seiner Brust ein Gang-Tattoo ist.

Der Präsident des Landes hatte erst kürzlich das Gesetz geändert. Menschen, die solche Tätowierungen tragen, würden ohne Verurteilung einfach ins Gefängnis gesteckt werden. Menschen wie er würden einfach von der Straße gesammelt werden. Von der Polizei, die in El Salvador an eine Armee erinnert. Sie werden eingesammelt, wie Kartoffelkäfer im Frühjahr von grünen Nutzpflanzen gepflückt werden.

„Sag mal, wie kannst du das hier eigentlich aushalten?“, fragt mich eine Frau. Sie wusste, was ich erlebe und erlebt habe.

Es ist eine schöne Frage, die eine einfache Antwort kennt. Meine Stadt Berlin kann das. Es ist meine Heimat, in der ich niemals vergessen kann, was außerhalb passiert, aber in der es keine Rolle spielt, was passiert.

Wir sprechen an diesem Abend über Butscha, wir sprechen über El Salvador, das entfernte und das nahe Grauen. Die Menschen und auch ich werden dabei betrunkener. Wir fühlen Betroffenheit, aber das Geschehen trifft uns nicht.

Selbst mich, als Beobachter vor Ort in den unruhigen Gebieten der Welt, trifft es nicht. Ich kann immer wieder nach Hause. Immer wieder in meine Straße, die ich auf und ab laufe, in mein Café in Friedrichshain. Ich kann immer an den Frühstückstisch meiner Eltern und Stullen essen und so tun, als würde mir der Kamillentee meiner Mutter schmecken. Die Strukturen meiner Umgebung scheinen unzerstörbar.

Sieben Katzen aus Butscha

In der letzten Woche kam eine Frau aus der Ukraine in meinem Büro an. Eine Bekannte. In ihrem Gepäck sieben Katzen und zwei Hunde. Die Katzen haben miauend und pieselnd in unserem Büro einen Raum der Ruhe gefunden. Wir vermittelten die Frau nach Brandenburg, wo Platz für sie und ihre Tiere ist.

Ihre Eltern haben sie über Nacht aus Kiew nach Berlin gefahren, haben ihre Tochter in Sicherheit gebracht. Ohne Heimat, ihre Wohnung zerstört, ihr Freund im Krieg, die Eltern in einem anderen Land, ihre Straße gerußt, ihr Café geschlossen.

Ich sitze in dieser Kneipe in der Torstraße und muss an die sieben Katzen, die zwei Hunde und die Frau denken und frage mich, was ihre felsenfesten Strukturen jetzt wohl sein werden. Was, wenn das Grauen dich trifft und betrifft; was, wenn diese Menschen nahe sind?

Was macht das mit uns, mit mir? Es verändert uns, aber es ändert nichts.

Ich ziehe an meiner e-Zigarette, ganz kann ich das Rauchen nicht lassen. Ich nippe am Wein und stelle wieder fest: Alkohol ist nichts für mich, und die nebelige Wirklichkeit durchschaue ich, egal wie betrunken ich bin.

Am nächsten Tag kommt die Frau mit den Katzen ins Büro, will danke sagen.

„Kommst du eigentlich aus Kiew?“, frage ich.

„Nein, aus Butscha“, sagt sie. Dann ist es kurz still, und in meinem Kopf sind die Fotografien aus dieser Stadt.

„Mein Freund geht heute hin. Er will wissen, ob es den anderen Katzen gut geht“, sagt sie.