Lange vor der Cirque-du-Soleil-Premiere von „Alizé“ am Donnerstag im Theater am Potsdamer Platz hat der Veranstalter selbst alle auffindbaren Superlative in die Runde geworfen: bahnbrechend, innovativ, magisch, atemberaubend, abenteuerlich, einzigartig, immersiv, surreal, fesselnd – und so weiter. Was bleibt da für die Rezensenten? Klar, es geht um eine Uraufführung, das erste feste Haus eines milliardenschweren Konzerns in Europa, um eine Show, die hier nie mehr wegwill – da darf alles gewaltig ausfallen, auch die Superlative. Und um es gleich zu resümieren: Der Cirque du Soleil hat Attraktionen nicht nur vollmundig versprochen, sondern auch geliefert. Er zeigt Unerklärliches und nie Gesehenes, man sitzt im Parkett und denkt: Wie machen die das?
In „Alizé“ heben Akrobaten vom Boden ab, segeln sanft durch den Raum, machen Salti in Zeitlupe, als sei die Luft gefüllt mit Schwerelos-Partikeln. Kein Schnürchen zu sehen vor dem flirrenden Hintergrund einer Guckkasten-Bühne, die aber auch zu einem rauschenden Herbstwald und einem Sternenhimmel mutieren kann. Kommt Sturm auf, klammern sich Artisten aneinander und wehen waagerecht im Wind. Mit Schwerelosigkeit hat David Copperfield in den 90ern die halbe Welt verblüfft. Es lässt sich nachlesen, wie das genau geht. Alles vergessen, wenn man gerade seinen Augen nicht traut.
Wobei der Cirque du Soleil das Schweben nicht einfach perfektioniert hat, er fusioniert es mit einer weiteren Illusion – mit dem Verschwinden. Wir sehen den Akrobaten beim Rotieren, Tanzen und Verbiegen zu – und plötzlich sind sie weg, mal in die Höhe gefallen, mal vom Boden verschluckt, mal bleibt eine Staubwolke. Aber wo sind die Künstler hin? Waren es doch nur Projektionen? Wenn sich Requisiten wie handfeste Türen auflösen oder den Platz tauschen, bleibt nicht mal Staub. Hier sind zusätzlich Holografie und raffinierte Lichteffekte im Einsatz. An dieser Fusion von Magie und Akrobatik haben ihre Erfinder, die französischen Regisseure Valentine Losseau und Raphael Navarro, 20 Jahre gearbeitet. Sie haben die Kunstform Acromagic getauft.
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Es soll ja keiner ins Parkett stürzen
Damit kein falscher Eindruck entsteht: In „Alizé“ gibt es auch klassische Akrobatik wie das Strapaten-Duo, das in wehenden Kostümen aus den Wolken fällt und über den Köpfen der Zuschauer einen rasanten Liebesreigen aufführt. Gehalten werden sie von schweren Bändern und Karabinerhaken – das sind die Sicherungen, die Artisten in der Luft gewöhnlich anlegen, nicht unsichtbare Drähte. Es soll ja keiner ins Parkett stürzen. Auch dieser unglaubliche Hochseilartist, der vier, fünf Meter über dem Bühnenboden in den Spagat fällt, ist angeleint, wenn er den Zuschauerraum überquert.
Beim Cirque du Soleil sind tatsächlich nur Ausnahme-Artisten im Einsatz. Seit seiner Gründung vor 41 Jahren setzt der kanadische Zirkus in seiner Sparte die Maßstäbe für Stil, Ästhetik und Originalität. Natürlich kann er unter den weltbesten Artisten wählen. Dazu gehören in dieser Inszenierung alle – die Kontorsionisten, der Leiterkletterer, die Schleuderbrett-Springer, die einen vierten Mann auf einen Turm von drei anderen katapultieren. Und die Trampolinflieger in einem verspiegelten Kasten, an dem sie waagerecht die Wände hochlaufen und bis unters Dach springen, dabei alles mühelos aussehen lassen. Wie laut so ein Aufprall in Wirklichkeit knallt, wie heftig vor Anstrengung gestöhnt wird, lässt sich auf Probenvideos erleben. Man kann die Klasse der Akrobaten, die von Kindheit an ihr Leben für ihren Beruf geben, nicht genug preisen.
Das Versprechen von Daniel Lamarre
Die esoterisch aufgeladene Geschichte von Alizé und seinen drei Freunden, die sich auf der Suche nach dem Glück begegnen, verlieren und wiederfinden, braucht es nicht, die versteht auch keiner. Ein Programm, in dem ausschließlich Artisten auftreten, hätte vielleicht mehr Stringenz vertragen bei der Staffelung der Höhepunkte, weniger Sphärenklänge mit Obertongesang. Die Clowns sind Geschmackssache.
Natürlich gab es stehende Ovationen zur Premiere für diese Show mit Strahlkraft. Der langjährige Cirque-du-Soleil-Chef Daniel Lamarre versprach am Schluss, zum fünften Jubiläum seine Ansprache auf Deutsch zu halten. Fünf Jahre täglich 1700 Zuschauer, das wäre sportlich.










