Vor 30 Jahren ließ sich die Kleinkunst groß wiederentdecken. Das Chamäleon-Varieté gründete sich 1991 auf einem Hinterhof mit bröckelndem Putz am Hackeschen Markt. Im Sommer danach eröffnete die Bar jeder Vernunft ihr Zelt auf einem Wilmersdorfer Beton-Parkdeck. Der Bar drohte schon die erste Pleite, als im September 1992 das pompöse Gegenstück zu ihr Schlagzeilen machte: der Wintergarten. Der Name war gekapert von dem legendären Varieté-Theater in der Friedrichstraße, nun strahlte er die Potsdamer Straße hinab – in großen Lettern von einem glitzernden Vordach. Bis 1989 hatten hier Rockgrößen im Musikklub Quartier Latin getobt.
Alles vorbei. Dann investierte der Berliner Veranstalter Peter Schwenkow neun Millionen Mark in ein Glamour-Etablissement mit rotem Plüsch und funkelndem Sternenhimmel: Bis heute einer der schönsten Theatersäle der Stadt. Versprochen waren Frühstück bis Mitternacht und liebenswürdige Kellner. Livrierte Türsteher empfingen die Gäste mit Valet-Parking, von dem damals die wenigsten wussten, was das überhaupt sein soll.
Schwenkow hatte die verfeindeten Roncalli-Erfinder André Heller und Bernhard Paul wieder miteinander versöhnt und ihre Kompetenz für sein Projekt genutzt. Größenwahnsinnig nannten sie es „Vatikan des Varietés“. Der Wintergarten wollte künftig zur Gesellschaft gehören, erwartete Rezensionen im Feuilleton. Unvergessen, wie eine leitende Redakteurin dieser Zeitung am Eröffnungstag mit dem Fuß aufstampfte und rief: „Ich! Will! Da! Hin!“ Eben weil sie dort die Berliner Gesellschaft vermutete. Natürlich reichten die 500 Plätze nicht für alle, die sich dazu zählten.
Der Neuigkeitswert einer Vergnügungsstätte erschöpft sich schnell
Anfangs lief das Haus wie von selbst. Viele Zuschauer hatten tatsächlich vergessen, wie elektrisierend es sich anfühlen kann, Kunststücke von Akrobaten, Magiern, Clowns und Alleinunterhaltern wahrhaftig auf einer Bühne zu erleben – zum Greifen nah anstatt fern am Fernseher.
Doch der Neuigkeitswert einer Vergnügungsstätte erschöpft sich schnell. Zumal zunächst nur klassische Nummernprogramme liefen, traditionell, kaum unterscheidbar. Das Vatikan-Trio atomisierte sich bald. Als Erster verließ es André Heller, der seine Innovationsansprüche unerfüllt sah. Bernhard Paul geizte in seinen hastigen Inszenierungen ohnehin mit Ideen. 2007 schließlich stieg Peter Schwenkow aus dem Projekt aus – hohe Mieten, rote Zahlen. Mit der Finanzkrise 2008 schlitterte der Wintergarten in die Insolvenz, begleitet von ratlosen Nachrufen.
Er wäre vielleicht längst Geschichte, hätte nicht der umtriebige Geschäftsführer Georg Strecker, seit 1998 dabei, mit beherztem Enthusiasmus für das alte Genre und seinen Neustart gekämpft. Der gelang 2010 gemeinsam mit dem neuen Betreiber – idealerweise der Vermieter. Die Immobilienfirma Kuthe ist zum Glück nicht angewiesen auf die unsicheren Gewinne der Kleinkunst-Branche. Sie investierte nun selbst großzügig in ihren Entertainment-Ableger, ließ die Technik erneuern, den Rang ausbauen, erschloss den Hof nebenan für Open Airs. Die Firma übrigens ließ zuletzt eine seiner Immobilien für die Unterbringung von 300 ukrainischen Flüchtlingen herrichten und spendete eine halbe Million Euro an ukrainische Einrichtungen.

Die schärfsten Klos der ganzen Stadt hat der Wintergarten
Zuvor waren im Wintergarten unterirdisch die schärfsten Klos der ganzen Stadt entstanden – mit Seidensamthockern, Bronzewaschbecken und Federwirbel beim Blick in Leuchtspiegel. Manchmal legt hier unten ein DJ auf und der Toilettenpalast selbst wird zum Club – und das klingt!
Vor allem aber laufen oben längst aufwändige Inszenierungen, kein Vergleich mehr mit den Anfangsjahren. Sie erzählen Geschichten, weiten das Varieté-Spektrum ins Radikale oder Halbseidene, immer überraschend, manchmal Genregrenzen sprengend. Aktuell läuft die klassische 20er-Jahre-Revue „Golden Years“, aber die Bühne wurde auch von Breakdancern besetzt, die nach Mozart und Bach rappten. Es gab schrille Ausflüge in die Tokioter Glitzerwelt und die neue Erfolgsgattung Musik-Akrobatik-Show schaffte es mal bis in die Waldbühne – ab Ende März läuft die „Woodstock Variety Show“. Einmal übernahm der Revue-Erneuerer Markus Pabst die Glamourbühne, verlegte sie in eine trist-graue Irrenanstalt nach Kriegsende, in der die Insassen das lethargische Anstaltsleben zu einer wilden Cabaret-Orgie aufmischten, vollkommen irre! Kein Feuilleton, das nicht eine ungläubige Eloge schrieb.


