Berlin-Mein Handy vibriert, während ich eine Fernsehsendung über den französischen Fußballer Christian Karembeu schaue. Eine Benachrichtigung folgt: Eine neue E-Mail befindet sich in meinem Postfach. Ich lasse mich aber von der Sendung nicht ablenken: Der Urgroßvater des französischen Weltmeisters wurde 1931 in Hagenbecks Tierpark in Hamburg als angeblicher „Kannibale“ zur Schau gestellt. Zusammen mit hundert weiteren Männern, Frauen und Kindern aus Neukaledonien, einer Inselgruppe im Südpazifik, die zu Frankreich gehört, wurde Karembeus Großvater nach Paris gebracht, um das Volk der Kanak auf der Kolonialausstellung zu vertreten.
Kurz nach der Ankunft in Paris wurden Willy Karembeu und die anderen Delegierten aus Neukaledonien in einen Zoo gebracht, in dem sie im Rahmen einer sogenannten „Völkerschau“ den Pariser Zoobesuchern neben Löwen, Elefanten und Giraffen vorgestellt wurden. Kurz darauf wurden manche von ihnen nach Hamburg weitergereicht, dort wurden sie als „letzte Kannibalen der Südsee“ präsentiert. Nicht nur die Kanaken, sondern Völker aus anderen Kolonien und entfernten Ländern wurden in europäischen „Menschenzoos“ gegen ihren Willen gezeigt, wo sie öffentlich gedemütigt und in miserabelsten Zuständen einquartiert wurden.
„Ein Jude sollte so viele Reisepässe wie möglich besitzen“
Als die Sendung zu Ende war, las ich die Nachricht: Frau Kilter aus der Staatsangehörigkeitsbehörde Friedrichshain-Kreuzberg freut sich, mir mitzuteilen, dass die Senatsverwaltung für Inneres positiv über meinen Einbürgerungsantrag entschieden hat. Die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft findet in einer Woche im Bezirksamt statt. „Sehr geehrte Frau Kilter“, schreibe ich ihr zurück und meine Autocorrect-Funktion korrigiert mich und nennt sie „Frau Killer“, „herzlich gratuliere ich der Staatsangehörigkeitsbehörde und der Senatsverwaltung für Inneres für diese wunderbare Entscheidung.
Ich werde Sie nicht enttäuschen – ich verspreche, ein vorbildlicher Bürger zu sein.“ Mit „Hochachtungsvoll“ unterschreibe ich meine Worte. Im Raum erklingt dann ein imaginärer Applaus – ich werde deutsch oder, genauer gesagt, ich werde deutscher Staatsbürger, denn „deutsch“ – was es auch immer heißt – erweckt bei mir als Enkel jüdischer Großeltern eine gewisse – hoffentlich nachvollziehbare – historische Skepsis. „Deutsch“ kann ich und will ich nicht sein. Mir reichen schlichtweg die Privilegien, die mit dem ersehnten roten Papierheft zusammenhängen. Eine ältere Frau, die dank eines Kindertransports den Holocaust überlebte, sagte mir einst: „Ein Jude sollte so viele Reisepässe wie möglich für alle Fälle besitzen.“ Dieser Satz lässt mich seitdem nicht mehr los.

Es wird nicht das erste Mal sein, dass ich bei einer feierlichen Staatsbürgerschaftsverleihung anwesend bin. Im Rahmen der Aufnahmen für den Podcast „We Love Israel“, den ich mit Ofer Waldman für den SWR produziert habe, besuchte ich ein solches Event im Rathaus Neukölln. In den zwei Staffeln dieses halb-dokumentarischen, halb-fiktiven Podcasts thematisierten wir eine merkwürdige Liebe für Israel – und nicht zuletzt für Israelis –, die wir seit Jahren in Deutschland spüren. Diese Liebe manifestiert sich nicht nur in der Entdeckung und Zelebrierung der israelischen Küche und im massiven Erwerb von Ottolenghi-Kochbüchern, sondern in einer allgemeinen Bewunderung dafür, dass man als Israeli trotz der grauenhaften Geschichte hier im Lande der Täter ansässig wurde, als hätte man damit signalisieren wollen: „Wir lassen die Vergangenheit hinter uns; es ist alles schon so lange her; meine Anwesenheit hier ist ein Zeichen dafür, dass ihr kein gestörtes Volk seid, und ich befreie euch hiermit von der historischen Schuld.“
Das Ende einer Odyssee
Die Inszenierungsweisen von Israelis und Juden in Deutschland interessierten uns besonders. In der letzten Folge des Podcasts erhalten alle Israelis in Berlin die deutsche Staatsbürgerschaft, bis auf eine Figur namens Shay. „Es tut mir leid, Shay“, entschuldigt sich der Moderator (Stephan Wolf-Schönburg) bei dem enttäuschten jungen Mann. „Einer muss Israeli bleiben. Wie wollen wir sonst beweisen, dass auch wir Deutsche in der Lage sind, jemanden zu lieben? Ab heute sind Sie, Shay, der letzte Israeli auf deutschem Boden. Alle werden Sie lieben wie keinen anderen Menschen in unserem Land. Sie werden jeden Montag zum Frühstück als Berater für jüdische Angelegenheiten ins Kanzleramt eingeladen; Sie erhalten freie Eintrittskarten für die Bundesliga und eine Bahncard 100; Sie dürfen nun die Hauptrolle des jüdisch-israelischen Opfers beim Tatort spielen.“
Die Veranstaltung im Rathaus Neukölln war in Wahrheit jedoch nicht ganz so extravagant und abgedreht wie wir sie in unserem Podcast inszenierten. Auf den Podest des Rathaussaals kamen Menschen unterschiedlichster Herkunft, viele von ihnen wurden in Deutschland geboren. Einige sahen sehr gerührt und erleichtert aus, als sie die ersehnte Urkunde erhielten. Für manche bedeutete es das Ende einer Odyssee und eine Garantie für existenzielle Sicherheit. Einer nach dem anderen wiederholten sie: „Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte.“
Das Messer im Rücken der Nation
Während ich diesen Satz manisch wiederhole und mich auf meinen Auftritt vorbereite, erinnere ich mich an eine Verschwörungstheorie aus der Weimarer Republik. Diese besagte, das „bolschewistische Judentum“ sei für die Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen – die unbesiegbare deutsche Nation sei „im Felde unbesiegt“ geblieben und habe erst durch oppositionelle „vaterlandslose“ Zivilisten aus der Heimat einen „Dolchstoß von hinten erhalten“. Es seien also nicht die Feinde von außen, die zur deutschen Niederlage geführt haben, sondern die Feinde von innen, die assimilierten jüdischen Staatsbürger, die man seit der Aufklärung und der Emanzipation nicht mehr vom „wahren“ Deutschen unterscheiden konnte. Die Dolchstoßlegende wurde wenige Jahre später zu einem zentralen Motiv des Nationalsozialismus.
Ich frage mich, was die Hamburger Zoogänger empfunden haben, als sie die Völkerschau in Hagenbecks Tierpark besuchten. Sie betrachteten die Menschen, die teilweise aus ihren Heimatländern entführt und nun in Käfigen umzäunt wurden, und waren wohl stolz auf die fortschrittlichen Leistungen der kolonialen Völkerkunde. Dabei wurde eine klare Grenze zwischen „uns“ und den „Fremden“ gezogen. Die Deutschen waren die mächtigen Zuschauer, die den versklavten Fremden eine Rolle zugeschrieben haben. Wie primitive und gefährliche Kannibalen wurden Letztere inszeniert, diese Rolle mussten sie in einem erniedrigenden Schauspiel verkörpern. Die tragische Geschichte des deutschen Judentums zeigt, dass trotz der mühsamen Versuche der Juden, ihre zugeschriebene Rolle aufzugeben und den Deutschen zu ähneln, sie niemals gleichberechtigte Bürger wurden. Ich bin ja Theater- und Hörspielregisseur, beschäftige mich tagtäglich mit der Erschaffung und Auflösung von Rollen. In diesem abendländischen Schauspiel übernehme ich also gern die einzige Rolle, die mir übrig bleibt – ab jetzt bin ich das Messer im Rücken der Nation.
Als ich mit meinem deutschen Ehemann mit der U1 ins Bezirksamt fahre, um meine Deutschlandtrophäe abzuholen, sieht die Stadt grauer als jemals zuvor aus. Wir halten Händchen, schauen uns in die Augen und fragen uns, ob sich ab jetzt etwas ändern wird. Als wir das Bezirksamt nach der gelungenen Einbürgerung verlassen, frage ich ihn leise: „Sehe ich schon wie eine Kartoffel aus?“ „Nein“, antwortet er, „du bist immer noch mein kleiner Jud’ Süß.“
