Rock

Die Ex-Milchbubis bleiben Megastars: Arctic Monkeys und ihre Platte „The Car“

Die größte britische Band der letzten zwei Dekaden vollzog schon mit der vorherigen Platte einen Stilbruch. Jetzt legen sie noch einen drauf. Was ist da los?

Die Arctic Monkeys sind immer noch die Jungs vom Block, wenn auch gereift.
Die Arctic Monkeys sind immer noch die Jungs vom Block, wenn auch gereift.Zackery Michael

Oft sind es ja vermeintliche Kleinigkeiten, an denen sich große Veränderungen am ehesten erkennen lassen. Beispiel Arctic Monkeys: Als die britische Rockband vergangene Woche Dienstag zu Gast in Klaas Heufer-Umlaufs Show „Late Night Berlin“ war, hätte man den symbolträchtigsten Augenblick des Nachmittags gut verpassen können, so kurz und scheinbar banal war er. Die Aufzeichnung des eigentlichen Talkshowauftritts der Band ist bereits abgeschlossen, die Arctic Monkeys geben im Anschluss noch ein hochexklusives Konzert in dem Fernsehstudio für eine überschaubare Schar von Fans und Verlosungsgewinnern, ein sogenanntes Musik-Spezial.

Das Konzert nähert sich nach ungefähr 45 Minuten seinem Ende; da kommt der Gitarrentechniker auf die Bühne, um dem Arctic-Monkeys-Sänger Alex Turner eine Gitarre für den nächsten Song anzureichen. Ein Routinemoment, der sich im Verlauf eines jeden Rockkonzerts zigmal wiederholt. Nun hat der Techniker allerdings nicht irgendeine Gitarre in der Hand, sondern eine Fender Stratocaster, also die neben der Les Paul von Gibson prominenteste Rockgitarre der Welt. Als pickliger Halbwüchsiger hatte Turner auf so einer Gitarre die frühen Indierockhits seiner Band geschrieben und gespielt, Songs wie seinen ersten großen Hit „I Bet You Look Good On The Dance Floor“. Für den Chamber Pop, den die Band auf ihrem letzten Album „Tranquility Base Hotel & Casino“ spielte, eignet sich das Instrument eher nicht so gut.

Nun hatten die Arctic Monkeys bei Late Night Berlin durchaus auch ältere Songs gespielt, etwa „Do I Wanna Know?“, „R U Mine“, „Cornerstone“ oder „505“. Zum Ende hin hofften die Leute aber natürlich, dass die Band ihnen nun geben würde, was sie hören wollten, also frühe Indierock-Gipfelstürmer wie „From the Ritz to the Rubble“ oder „Brianstorm“. Aber Turner schüttelt nach kurzem Überlegen den Kopf und schickt den Techniker nach hinten. Bald darauf kehrt der Mann mit einem anderen Modell zurück, und die Arctic Monkeys spielen „Big Ideas“ von ihrem neuen, am 21. Oktober erscheinenden Album „The Car“.

Mal kurz zurück auf Start: Ungezügelte Energie und Milchbubigesichter, das war es, was man vor allem mit dieser Band verband, als die Arctic Monkeys 2005 zunächst eine frühe Internet-Sensation wurden und einige Monate später das am schnellsten verkaufte Album der britischen Charts-Historie veröffentlichten: „Whatever People Say I Am, That‘s What I‘m Not“. Ihr weiterer Weg führte die Band geradewegs in die Wüste und dort ins Stonerrockstudio von Josh Homme (Queens Of The Stone Age), ehe ihnen schließlich 2013 mit dem unter anderem an R&B und HipHop geschulten Album „AM“ endgültig der ganz große internationale Durchbruch gelang. Von da an waren die Arctic Monkeys Megastars.

Kommerzieller Selbstmord?

Statt das damals neue Erfolgsrezept zügig mit einer weiteren Veröffentlichung zu bestätigen, tat die Band fünf Jahre lang gar nichts – um dann ein Album zu veröffentlichen, das man als kommerziellen Selbstmord bezeichnen könnte, wenn es denn nicht ebenfalls ziemlich erfolgreich gewesen wäre: Auf „Tranquility Base Hotel & Casino“ spielten die Arctic Monkeys eine wiederum völlig anders klingende, von Alex Turner allein am Klavier ersonnene Musik, die von Chanson, Scott-Walker-Grandeza, Kammerpop, Lounge und jeweils einer kleinen Prise Rat Pack und Siebzigerjahre-Coolness durchzogen war. Es tat ihrer Popularität keinen Abbruch; offenbar sind die Arctic Monkeys inzwischen eine jener Bands, die über den Dingen schweben und sich so ziemlich alles erlauben können.

Das Cover zum Album „The Car“ der Arctic Monkeys
Das Cover zum Album „The Car“ der Arctic MonkeysMatt Helders and Domino Records 2022

Kurz nachdem die Band nun für 2023 die mit Abstand größte Tour ihrer Karriere bestätigt hat – in Großbritannien treten die Monkeys ausnahmslos in den größten Fußballstadien auf, in London und Manchester sogar jeweils zweimal –, veröffentlichen sie nun mit „The Car“ ein Album, das die Definition von Stadionrock um Meilen verfehlt. Wer also gehofft hatte, das letzte Album sei ein einmaliges Experiment gewesen, nach dem die Band zügig zum Indierock zurückkehren würde – den ersten Kommentaren in den Sozialen Medien zufolge sind das nicht wenige –, wird durch „The Car“ eines Besseren belehrt.

Turner hat durchaus Verständnis für diese Fans, er weiß es ja selbst auch nicht so genau: „Ich bin jedes Mal bis zur Veröffentlichung vollkommen unsicher, ob das jeweils neue Album überhaupt Sinn ergibt“, sagte er im Rahmen unseres Interviews im Sommer 2022 in London. „Auch diesmal habe ich nicht die geringste Ahnung, ob ‚The Car‘ irgendwie funktionieren wird.“

Portishead-Beat und Wah-Wah-Funkgitarre

Ausgehend von „Tranquility Base“ erweitern die Monkeys ihren Modern-Lounge-Entwurf auf diesem Album um Soul-Einflüsse; in dem Song „Sculptures Of Anything Goes“ ist ein an die späteren Portishead erinnernder elektronischer Beat zu hören, und in „Jet Skies On The Moat“ eine phillysoulartige Wah-Wah-Funkgitarre. Gitarren sind allerdings das einzige Zugeständnis an die Traditionalisten, es kommen deutlich mehr von ihnen zum Einsatz als zuletzt, allerdings nur sehr vereinzelt Rockgitarren. „Ich finde, dass es auf ‚The Car‘ wieder deutlich mehr Parallelen zu unseren älteren Alben gibt“, sagt nun allerdings Turner. „Diesmal habe ich sogar wieder einige der Songs auf der Gitarre geschrieben, nachdem ich zuletzt nur auf dem Klavier komponiert hatte.“

Die gute Nachricht ist, dass das alles überhaupt keine Rolle spielt. Alex Turner wurde bereits als Teenager für die Milieustudien des britischen Provinzrealismus in seinen Songs als begabtester Texter seiner Generation gelobt. Auch auf „The Car“ sind seine sorgfältig zurechtgedrechselten, frei assoziativen Lyrik-Miniaturen sprachlich und dichterisch famos, aber der eigentliche Star auf diesem Album ist die Musik – und hier vor allem der Gesang.

Es wird so schnell nicht wieder möglich sein, die Art und Weise, wie diese Musik zustande kommt, so unmittelbar zu studieren wie bei „Late Night Berlin“. Die perfekt nuancierte, hingebungsvolle Art, wie Alex Turner den Titelsong im Stil eines großen Soul-Crooners singt, wie die Band in „There'd Better Be A Mirorball“ (mit dem das Album eröffnet wird) aufeinander und vor allem auf ihn, den unbestrittenen musikalischen Direktor reagiert; wie ausgewachsen und wohltemperiert die ehemaligen Indie-Haudruffs Matt Helder (Schlagzeug) und Jamie Cook (Gittare) den neuen Songs beinahe im Stile einer versierten Jazzband genau die perfekte Dynamik und Temperatur angedeihen lassen, hat eine Klasse, die man von dieser Band nicht erwartet hätte. Achten Sie auf die Details!

Aus dem Jungen ist ein Mann geworden

Die überwiegend kryptisch und assoziativ gehaltenen Texte kann man derweil als Reflexionen auf das Showbusiness lesen. Das lose Grundmotiv der zehn Songs folgt in Szenen und Bildern immer wieder der Erzählung einer nicht näher definierten Kulturproduktion. „Ich kann nicht genau sagen, was es ist“, sagt Turner, „nur, dass es permanent darum geht, irgendetwas Kreatives vorzubereiten. Allerdings keine Albumproduktion, es ist kein authentischer Studiobericht oder so was.“ Das Interview neigt sich dem Ende entgegen, aber eines ist Alex Turner noch wichtig: „Nur weil meine Texte nicht mehr autobiografisch sind, bedeutet das nicht, dass sie nichts über meine Gefühle aussagen. Das Gegenteil ist wahr, es steckt viel mehr von mir in diesen Songs als in meinen früheren.“

„I could pass for seventeen if I just get a shave and catch some Zs“, singt Turner in „Hello You“. Aus dem Jungen ist zwar ein Mann geworden, aber der Sänger ist immer noch gerade einmal 36 Jahre alt – und blickt schon auf eine ganze Karriere zurück. Es könnte allerdings sein, dass der interessanteste Abschnitt des Weges noch vor den Arctic Monkeys liegt. Irgendwann werden sie es dann womöglich doch bereuen, damals nicht eine Sekunde länger über ihren bescheuerten Namen nachgedacht zu haben. 

Arctic Monkeys: „The Car“. (Domino/Goodtogo)