An einem Dienstag im Dezember steht Dieter „Maschine“ Birr ungewohnt zeitig auf, mit Wecker. Er will für diesen Fernsehtermin auf keinen Fall verschlafen aussehen, sondern frisch und wach. Am Vortag ist er von Berlin nach Düsseldorf geflogen, hat im Hotel übernachtet, bis ihn früh ein Fahrer abholt und ins Studio bringt. Für einen Musiker, der ein neues Album auf dem Markt hat, ist eine Einladung ins ZDF-Morgenmagazin nicht mit Geld aufzuwiegen. Er darf dort einen Titel singen, noch kurz über die Platte plaudern, und drei bis vier Millionen Menschen schauen zu. In eine solche Sendung ist keinem Musiker der Weg zu weit.
Der Fahrer erzählt unterwegs von einem möglichen Streik. Aha, denkt Birr, das ist da also auch ein Thema. Dass er aber im Studio ankommt und die Sendung gar nicht stattfindet, der Bildschirm an diesem Morgen dunkel bleibt, weil das MoMa-Team mit einem Warnstreik für mehr Geld den ganzen Morgen blockiert, das lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Ich hätte mit dem Sänger gern ein bisschen über die Verschwendung von Gebührengeldern im Öffentlich-Rechtlichen gelästert, aber sein Ärger ist schon verraucht. Ihm wurde Ersatz angeboten. Die Terminfindung in anderen Sendungen war schwierig, schließlich sollte kein Konzert ausfallen, weil er sich erneut auf den Weg macht in ein ZDF-Studio.
Für mich hat er eigentlich auch keine Zeit, die Anfrage kommt spät. Doch wir kennen uns lange. Zuletzt hat Dieter Birr der Berliner Zeitung die Hintergründe zur Auflösung der Puhdys erzählt. 2019 war das, stundenlang saßen wir am Esstisch in seinem Haus aus Glas in Neuenhagen bei Berlin, seine Frau Sylvia trug Einzelheiten aus dicken Aktenordnern zusammen. Ein Gerichtsprozess über Urheberrechte stand bevor. Dieter Birr, Motor der Puhdys, ihr Komponist, Gitarrist und Sänger, war damals ernst und angespannt. Jahrelang hatte er gezögert, überhaupt öffentlich über den Streit zu reden. Noch immer nannte er die Puhdys seine Familie. Dazu später im Text.
Neue Platte von Ex-Puhdy Dieter „Maschine“ Birr
Über die gerade erschienene neue Platte „Große Herzen“ plaudern wir nun am Telefon. Dieter Birr ist gerade auf dem Weg nach Dresden und Leipzig zu Autogrammstunden, am Steuer ein Kollege. Er sprüht vor guter Laune und ungebremster Redelust. Warum denn? Na klar, das neue Album. Er zählt die Fernsehsendungen auf, in die er eingeladen ist, hat viele Pressetermine vor der Tournee: „Es klingt nach Selbstlob, aber ehrlich, wo ich auch hinkomme, sagen alle, das Album ist toll. Das freut mich natürlich, denn es steckt Herzblut drin. Als Autor legst du ja mit manchem Titel einen Seelenstriptease hin, verwirfst, zweifelst, hinterfragst. Liederschreiben ist harte, einsame Arbeit. Und dieses Mal haben mein Co-Produzent Lukas Schaaf und ich alles aus den Songs rausgeholt.“
Tatsächlich ist es ein schön griffiges, fein arrangiertes Album geworden. Es gibt klare Hooklines, die sich schon nach dem zweiten Hören festsetzen, etwa in „Bessere Tage“. Das Video dazu entstand während der Pandemie im dunklen, leeren Berlin. Fast schon vergessen, wie gespenstisch die Stadt damals aussah. Überdies hat Dieter Birr selbst nie schöner gesungen als auf diesem Album – die Stimme tiefdunkel, sicher und kraftvoll. Natürlich hört sich das alles an wie die Puhdys, was sonst.
Er schrieb auch die Texte selbst. Sie klingen nun nicht nach den literarischen Vorlagen von Plenzdorf mit einst unsterblichen Zeilen, sondern nach Alltag, manchmal nach Reimlexikon. Aber was sagen die Fans auf YouTube – sie danken für „großes Emotionskino“. Es geht um Abschiede, Trennungen, Liebesqual und Zorn.
Die größten Hallen im deutschen Osten oder auch eine ausverkaufte Waldbühne, das waren zuletzt die Statusbühnen der Puhdys. Jetzt steuert Dieter Birr auf seiner Tournee – zusammen mit dem virtuosen Silly-Gitarristen Uwe Hassbecker – kleinere Theater und Varieté-Säle an. Darunter auch das Freiberger Tivoli, wo die Puhdys 1969 erstmals aufspielten, damals noch zum Tanz. Ein Abstieg? „Nein, sieh das mal so: Das ist gerade wieder ein Anfang. Ins Olympiastadion gehen wir später. Du bist eingeladen, musst nur sagen, ob du am ersten oder zweiten Tag kommen willst, haha!“
So ein Humor lässt Verluste schrumpfen. Dieter Birr hat seit 2014 in erstaunlicher Produktivität vier Soloalben herausgebracht. Aber mit den Puhdys, die 47 Jahre lang seine musikalische Heimat bildeten, bewegte sich seine Karriere doch in deutlich anderen Dimensionen, und zwar in beiden politischen Systemen. Erstmal waren sie die berühmteste Band der DDR, geliebt oder verachtet, in jedem Fall prägend für den Sound eines halben Landes.
Sie hatten angefangen wie die meisten DDR-Bands, mit Beatmusik, genauer mit den Rolling Stones, Uriah Heep, Deep Purple. Die Titel hörten sie sich im Radio an, spielten sie auf der Gitarre nach, sangen lautmalerisch die Texte dazu. Sie waren gut. Fans wollten sie im Fernsehen sehen. Dahin durfte man nur mit eigenen Liedern, bitte auf Deutsch.
Deshalb schrieb Dieter Birr seine erste Nummer, einfach, weil sie gebraucht wurde: „Türen öffnen sich zur Stadt“. Sie landete gleich ganz vorn in den DDR-Hitparaden. Bis heute sind es 450 bis 500 Titel geworden. Die Birrs waren keine Komponistenfamilie. Der Vater spielte Akkordeon, die Mutter sang beim Abwasch Schlager, er selbst hörte Musik auf AFN und lernte Universalschleifer in einer Treptower Werkzeugfabrik. Berufsmusiker wollte er nicht werden; um keine Etüden üben zu müssen. Hat er dann aber doch gemacht. Es ging ja um was, und Profis brauchten einen Musikschulabschluss.
Vom Habenichts zum Millionär?
Die Puhdys wurden groß und größer, fuhren irgendwann mit ihrem protzigen weißen Sattelschlepper durch Europa. Sie durften im Westen spielen, in London produzieren, sich Amerika angucken, ein DDR-fremdes Leben führen. Welche Rolle spielte damals eigentlich Geld bei den Musikern, die alle als Habenichtse begonnen hatten? Dieter Birr: „Keine. Es war immer genug da. Dass ich zehn Millionen hatte, die Kollegen nur acht Millionen, hat keinen gestört. – Scherz! Schreib das bloß nicht, sonst glauben das die Leute noch. Klar haben wir richtig viel verdient, konnten die Gagen anders als die meisten anderen Bands frei bestimmen, aber superreich wurde keiner von uns. In unser kleinkapitalistisches Familienunternehmen mussten wir richtig investieren, Instrumente, Anlagen, alles im Westen kaufen bei einem Kurs von 1:5, manchmal noch schlechter.“ Im Sommer 1989 war die Band so erfolgssatt, dass sie sich das erste Mal auflöste. Dieter Birr war dagegen, es half aber nichts.
Auf der Autobahn zu seinen Autogrammstunden bittet er, nicht über den finalen Streit mit seiner alten Band zu sprechen; die Kollegen bestehen auf Verschwiegenheit. Gut, redet er also nicht darüber, dass die Puhdys 2013 ein Album ohne jede Mitwirkung ihres Komponisten herausbringen. Es wird ihr letztes: Kompositionen, Arrangements, Texte, alles eingekauft, keiner der Puhdys beteiligt. Dieter Birr verletzt dieser Vertrauensbruch bis ins Mark. Er führt letztlich zur Auflösung der Band und Neuordnung künftiger Tantiemen.
Hunderte Kompositionen firmierten unter dem Namen Puhdys, obwohl sie von Dieter Birr stammen. Er hat die Tantiemen dafür jahrzehntelang mit seinen Kollegen geteilt, weil sie eine gemeinsame Band waren. Das wollte er in Zukunft nicht mehr. Als Boulevardmedien darauf ansprangen und ihn der Geldgier und Abzocke bezichtigten, ausgerechnet ihn, der still Hunderttausende Euro an seine Kollegen verschenkt hatte, da entschloss er sich, ein Klartext-Interview zu geben. 2021 einigten sich die Puhdys außergerichtlich. Der Komponist ist mit dem Ergebnis hochzufrieden.
Auf seinem neuen Album thematisiert er die Trennung selbst. In dem Song: „Wenn ich noch einmal leben könnt“ meldet er nicht nur ein zweites Leben „nach dem Finale“ an. Er gibt auch bekannt, mit wem er es verbringen würde: Nämlich wieder mit der gleichen Band, „aber friedlich bis zum letzten Ton“. Und manche Worte täten ihm leid.
Birr: „Ich will sagen, dass es natürlich die beste Zeit meines Lebens war mit den Puhdys, dass ich nichts bereue, mir nur ein anderes Ende gewünscht hätte. Was haben wir alles zusammen erlebt!“ Und? War er nun als Chef der Band herrisch, ungerecht oder gemein? „Nein! Aber ja, manchmal war ich sauer, hart im Ton. Allerdings nur, wenn es um musikalische Dinge ging, um Disziplin. Wir sind Profis, verdienen unser Geld mit Musik, da kommt man doch nicht unvorbereitet zur Probe. Es ging immer um Engagement, nie um Virtuosität. Ich merke, dass es heute anders ist: Die erste Probe steht an und jeder Musiker kann alles. Wir fangen sofort mit der Abstimmung an.“
Dieter Birr über die Puhdys: „Ich hätte die Band nicht aufs Spiel gesetzt.“
Dutzende Zeitungen berichten über die Ankunft der neuen Platte „Große Herzen“ mit Schlagzeilen wie „Weiter Eiszeit bei den Puhdys“ oder „Kein Kontakt mehr“, als sei ein Revival geplatzt. Fans hatten sich natürlich Hoffnungen gemacht nach der Abschiedstournee 2016. Da spielten die Musiker, längst zerstritten, den Titel „Was bleibt – sind Freunde im Leben“ demonstrativ gleich zweimal. Aber waren die Puhdys überhaupt je Freunde? Birr: „Na, am Anfang schon. Jahrzehntelang war die Band uns heilig. Jeder stand für den anderen ein, wir hatten Vertrauen. Sehr plötzlich wurde es anders. Ich hätte die Band nicht aufs Spiel gesetzt. So eine Wunde verheilt nicht.“
Gerade hat sich die nächste große alte Ost-Band verabschiedet – City, mit einer gefeierten Tournee, Grandezza und Wehmut. Fit und gesund wollten sie sein bei ihrem letzten Auftritt und gehen, wenn es am schönsten ist. Dieter „Maschine“ Birr, der hochgewachsene schlaksige Puhdys-Sänger mit dem Knittergesicht, beobachtet das genau. City-Mitbegründer Fritz Puppel, sein ältester Freund, mit dem er schon als Lehrling in Treptow gearbeitet und in den 1960ern bei den Lunics gespielt hat, er sucht also mehr Ruhe.
Dieter Birr nicht. Nach einer Borreliose, einer Krebs-Operation und schließlich Corona ist ihm schon ein gepflegter Grundsatz abhanden gekommen: „Krankheiten lehne ich ab. Sport auch.“ Das geht nun nicht mehr, er muss sich fit halten. Blickt dabei unerschrocken auf das, was kommt. Passt auf, dass er zu tun hat. Verbreitet auf dem Album Optimismus. Man kann ihn nicht fragen, ob er ans Aufhören denkt, wenn er sich gerade neue Auftritte verschafft. Glücksmomente, die im Alter oft rapide nachlassen.
Keinesfalls stellt sich der 78-Jährige sein Leben in zehn Jahren vor. „Nee! Warum auch? Resignieren kann ich später. Die Gegenwart ist erschreckend genug, in der dieser irrsinnige Krieg geführt wird, dessen Sinn ich nicht erkenne.“ In unverstelltem Berliner Dialekt denkt er über das Alter nach. „Es kommt sowieso anders, als man denkt. Mit 30 haben wir als Puhdys versucht, unser Alter geheim zu halten. Wir fürchteten, vielleicht schon zu alt zu sein für die Bühne. Später dachte ich, mit 50 ist das Leben vorbei, da will dich keiner mehr hören. Doch dann haben wir die größten Hallen als Rentner gefüllt. Und jetzt hören mir die Leute immer noch zu. Ist doch ein verdammtes Glück. Ich bin dankbar für jedes Konzert. Wer weiß, was noch kommt.“



