Kolumne

Ich habe ausgerechnet, wie viele Bücher ich noch lesen kann, bevor ich sterbe

Alle, die sich eine konkrete Vorstellung von der Endlichkeit des Lebens machen möchten, sollten das tun. Die Rechnung stellt einen vor schwierige Entscheidungen.

Soll es wirklich dieses Buch sein?
Soll es wirklich dieses Buch sein?IMAGO/YAY Images

Wer sich eine konkretere Vorstellung von der Endlichkeit des Lebens machen möchte, sollte sich mal ausrechnen, wie viele Bücher er noch lesen kann, bevor er stirbt. Was mich angeht: Ich lese etwa ein Buch alle zwei Wochen. Mehr schaffe ich einfach nicht. Das wird sich möglicherweise einmal ändern, aber erst mal muss man mit dem rechnen, was ist. Zwei Bücher pro Monat macht 24 Bücher pro Jahr. Sagen wir, ich lebe, wenn alles gut geht, noch 25 Jahre und halte das Tempo auch in hohem Alter. Dann komme ich auf 600 Bücher. Vielleicht kann ich das Tempo als Rentnerin auch erhöhen, aber wer weiß das schon.

Allein in der Stadtbibliothek Neukölln stehen 180.000 Medien, das meiste sind Bücher, dazu ein paar CDs und DVDs. Das vor Augen, ist die Zahl 600 ein Witz. Und die Frage, welches Buch man zu lesen für wert erachtet in der verbleibenden Lebenszeit, wird ungeheuer wichtig. Es wird nicht mehr jedes Buch sein, das man zum Geburtstag geschenkt bekommt, und das man früher schon allein aus dem Grund gelesen hätte, um dem Schenkenden ein paar Worte dazu sagen zu können. Für diese Art der Höflichkeitslektüre hat man nur Zeit, solange man noch jung ist und die Unendlichkeit vor sich zu haben meint. Nicht mehr allzu viel Zeit habe ich auch für Bücher, die  mir nicht gefallen. Früher habe ich jedes Buch zu Ende gelesen, so als ob der Autor, die Autorin es schaffen könne, das Ruder auf den letzten, sagen wir 100, Seiten herumzureißen. Es ist fast nie passiert. Heute hat er oder sie nur 50 Seiten lang die Chance. Klingt das hart über die Gebühr? Ich habe doch nur den Tod vor Augen.

Zweimal bemerkte ich nach der Hälfte: Dieses Buch habe ich schon gelesen

Es ist mir jedoch nun bereits das zweite Mal passiert, dass ich ein Buch zur Hand nahm, und erst als ich schon halb durch war, nach über 150 oder gar 200, 250 Seiten also, durch irgendeine Kleinigkeit bemerkte: Dieses Buch habe ich schon gelesen. Angesichts der begrenzten Möglichkeiten ist das der Super-Gau. Verwundert hat mich auch, dass ich mich bis zu dem Moment der Erkenntnis an überhaupt nichts mehr erinnern konnte, also den Eindruck hatte, ein völlig neues Buch zu lesen.

Ich überlegte beide Male kurz, das Buch aus der Hand zu legen, habe dann aber doch beide zu Ende gelesen. Gar nicht übrigens, weil ich mir so noch mal die Illusion der Unendlichkeit machen wollte. Eher um mal ausnahmsweise auf die Endlichkeit zu pfeifen.