Drei Dinge verkaufen garantiert Zeitungen, habe ihm ein Chefredakteur der Bild-Zeitung mal gesteckt: „Hitler, die deutsche Wiedervereinigung und Boris Becker“. Das erzählt Letzterer und erinnert sich mit einer gewissen Erleichterung an diesen Satz, der für ihn plötzlich einiges erklärte. Heute könnte er sich wohl mit Jan Böhmermann darüber unterhalten – natürlich mit dem großen Unterschied, dass Böhmermann immer noch einfach das Land verlassen kann, wenn ihm nach ein wenig Ruhe zumute ist. Boris Becker allerdings war und ist nicht nur in Deutschland ein Megastar und Faszinosum für die Massen. Tennisfans auf der ganzen Welt kennen ihn als „Boom Boom Becker“ (zu deutsch: Bumm Bumm Becker), ein Spitzname, der zunächst auf die harten Aufschläge und später auf anderes anspielte.
„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ heißt der Zweiteiler des erfolgreichen Dokumentaristen Alex Gibney, der am Fließband Filme raushaut – fünf allein seit 2020, über die amerikanische Opioid-Krise, einen Häftling in Guantanamo, Donald Trumps Corona-Politik, russische Wahlmanipulation und die Psyche von Serienmördern. Hier reihen sich nun die beiden Filme über Becker ein, „Triumph“ und „Desaster“ hat Gibney sie genannt. Doch so einfach ist es natürlich nicht.
Man hat das alles schon allzu oft gesehen und gehört: Die Krimis auf dem Court, die Zeitungsschlagzeilen und auch Beckers Kommentare dazu. Er ist ein guter Erzähler, der über Jahrzehnte Vergangenes lacht, klagt und schwärmt, als wäre es erst gestern gewesen. Auf der Sympathieskala wird er nur noch übertroffen von seinem Konkurrenten und späteren Kommentatoren-Kollegen John McEnroe, der Boris bei ihrem ersten Duell „I’m gonna beat the shit out of you, motherfucker“ zuraunte, und nach Beckers Verurteilung 2022 „Boris, we love you. We miss you, man“ in die Kamera sprach. Wofür er prompt scharf kritisiert wurde – einen verurteilen Kriminellen grüßen, das macht man doch nicht!
„Womit habe ich das alles verdient?“
Dass man es doch will, davon hängt für Boris Becker heute mehr ab, als er sich wohl je hätte träumen lassen, als er 2018 seine Mitarbeit an dem Film zusagte. In diesem Jahr traf Gibney ihn zu ihrem ersten von nur zwei langen Interviews. Damals steckte Becker längst in finanziellen Nöten, doch dass diese ihn irgendwann in den Knast bringen könnten, schien außerhalb von Beckers Vorstellungskraft zu liegen. Womit er sicher nicht allein dastand. Das zweite Gespräch fand 2022 statt, wenige Tage vor der Verkündung, dass Becker eine Haftstrafe würde antreten müssen, groteskerweise nur drei Meilen entfernt vom Centercourt in Wimbledon, wo er 1985 mit 17 Jahren als jüngster Spieler aller Zeiten das Turnier gewann. „Womit habe ich das alles verdient?“, fragt Becker irgendwann in Richtung Gibney und Himmel; bis zuletzt sah er sich als Opfer von falschen Freunden und Geschäftspartnern.
Das mag durchaus stimmen, etwas anderes legt auch der Regisseur nicht nahe. Gleichzeitig sät er Zweifel an Beckers generellem Verhältnis zur Wahrheit. Wenn dieser von seiner Schlaftablettensucht erzählt und von dem Moment, als er nach einem knappen Sieg die Schachtel aus dem Fenster schleuderte und damit den Pillen abschwor, bemerkt Gibney aus dem Off, dass Becker die Szene in seiner Autobiografie anders beschrieben hatte. Nach dieser Version der Geschichte soll seine damalige Ehefrau Barbara die Tabletten aus dem Fenster geworfen haben – sie selbst erinnert sich im Interview, dass sie sie in der Toilette herunterspülte. Schwerer wiegt eine vermeintliche Lüge über die Umstände der Empfängnis seiner Tochter Anna Ermakova und seine Reaktion darauf – was aktuell wieder zuhauf in den deutschen Medien nachzulesen ist, weil Ermakova als Kandidatin in der RTL-Sendung „Let’s Dance“ mittanzt.
Es gibt wie gesagt schon unzählige Dokumentarfilme über Boris Becker, darunter auch gute, zum Beispiel die öffentlich-rechtliche Produktion „Der Spieler“ von 2017. „Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ ist auf das internationale Publikum der Streaming-Plattform Apple TV+ zugeschnitten, das die mediale Becker-Dauerbeschallung nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat, so wie der gemeine Deutsche unter 40. Langweilig sind die drei Stunden trotzdem nicht, wie denn auch, bei diesem Leben.


