Nach Science-Fiction sieht es hier zunächst nicht aus. Eine junge Frau in Jeansshorts bringt ihrer kranken und blinden Mutter einen Kaffee und die täglichen Tabletten; das Sandwich könne sie sich später aus dem Kühlschrank holen. Die beiden leben in einem verwitterten Holzhaus mitten im Wald, irgendwo im Südosten der USA. Der Blick in die Pillendose löst bei Tochter Flynne (Chloë Grace Moretz) offensichtlich einen Verdacht aus. Sie eilt aus dem Haus, zum metallenen Wohnwagen, der ein Stück entfernt steht. Hier lebt ihr älterer Bruder Burton (Jack Reynor), der oben ohne neben ungespültem Geschirr in seinem Gaming-Sessel sitzt und zockt. Hat der Veteran etwa eine Schmerztablette von Mama geklaut? So weit das Spiel mit den amerikanischen Klischees.
Doch manches irritiert dabei. Der kleine Roboter, dem Flynn beim Rausgehen einen Tritt versetzt hat, sah etwas zu modern aus für einen gängigen Saugautomat, wie auch die VR-Brille, durch die Burton seine Spielwelt sieht. Und was blinkt da sanft unter seiner Haut am Arm? Die Hinweise häufen sich, und irgendwann verraten die Serienmacher: Wir befinden uns hier nicht in der Gegenwart, sondern in der nahen Zukunft, im Jahr 2032. Während die Natur, die Häuser, die Menschen und Kneipen noch aussehen wie heute, hat die Technik offenbar einen ordentlichen Sprung gemacht. Virtual Reality wird ihrem Namen nun deutlich gerechter, es gibt Fortschritte in der Mobilität und auch in der Kriegsführung, wo wir wieder bei Burtons blinkendem Unterarm wären. Denn beim Militär kam man irgendwann auf die Idee, dass bestehende Beziehungen von Soldaten für die Kampfmoral nützlich sein könnten, und so wurden Burton und seine besten Freunde aus der Kindheit kurzerhand sensorisch verknüpft – eine Prozedur, die auch nach Kriegsende unumkehrbar ist.
Burton verdient sein Geld noch immer als Soldat, nun aber als virtueller. In Videospielen unterstützt er andere Gamer, die dafür bezahlen, von ihm durch ein Abenteuer begleitet zu werden und so möglichst weit in der Story voranzukommen, etwa im Kampf gegen Nazis. Sein Avatar gehört zu den erfolgreichsten der Welt, allerdings nur, weil gelegentlich auch seine Schwester damit spielt, die noch mal deutlich besser ist als er. Weil Burton das sehr wohl weiß, überredet er Flynne, wieder für ihn einzuspringen, als es um wirklich großes Geld geht. Der Auftrag soll in einem ganz neuen System absolviert werden, gespielt mit einem Headset, das direkt an die Hirnströme andockt. Entsprechend begeistert ist Flynne, als sie auf dem Motorrad durch ein futuristisches London rast. „Es ist, als wäre ich wirklich dort“, staunt sie, und genau deshalb wird es bald ein bisschen cringe, wie die jungen Leute, die die Zielgruppe dieser Serie sind, heute schon nicht mehr sagen würden.
Frauen verführen mit dem Körper des Bruders
Als eine ihrer ersten Aufgaben soll Flynne mit dem Avatar ihres Bruders eine Frau verführen – und kommt dabei ziemlich weit. Sie spürt die Küsse einer Fremden durch die Lippen ihres Bruders, und spätestens hier, also schon nach wenigen Minuten der ersten Folge, haben die Produzenten Lisa Joy und Jonathan Nolan ihre Zuschauer da, wo sie sie haben wollen: im Dauergedanken „Was wäre wenn und was würde das bedeuten?“, von dem auch schon die fabelhafte HBO-Serie „Westworld“ der beiden lebte.
Die „Sim“, kurz für Simulation, wie VR-Games im Jahr 2032 heißen, entwickelt sich bald in eine Richtung, die das potenzielle Unwohlsein mit dem Bruderkuss zur Lappalie werden lässt. Erst muss Flynne die Frau betäuben und den Fahrer unschädlich machen; bei der nächsten Sitzung wacht sie dann gefesselt an den OP-Stuhl auf, wo ihr bei vollem Bewusstsein (des Avatars) ein Auge entfernt werden soll. Ihrem echten Körper im Wohnwagen springt dabei fast das Herz aus der Brust. Doch Flynne hält durch, lange genug, um zu verstehen, dass es einen Grund gibt, wieso sich diese Simulation so viel realer anfühlt als alle anderen vor ihr. Die fortschrittlichere Technik ist dabei nur ein Baustein.
Wer Angst hat, an dieser Stelle wäre schon zu viel verraten, kann beruhigt sein: Noch ist nicht mal die erste Folge vorüber. Sieben weitere kommen noch, jede mit neuen Wendungen und Geheimnissen, visuell überragend inszeniert. Wie auch „Westworld“ funktioniert die Geschichte besonders durch ihren Kontrast der Realitäten, der hier noch zugänglicher ist, weil der Tech-Welt das ländliche Amerika der Gegenwart gegenübersteht und nicht der Wilde Westen, auch wenn es da freilich Parallelen gibt. Wann sich der Fortschritt durch Technik ins Gegenteil verkehrt, wie emotionale Beziehungen funktionieren und was menschliche Erfahrung ausmacht – all diese Fragen, die im Fall von „Westworld“ zugunsten der künstlichen Ausdehnung eines beliebten Titels nach der ersten Staffel hinter einem zerfaserten Plot verschwanden, werden in „Peripherie“ noch mal neu und auf frische Art gestellt.
Wertung: 4 von 5 Punkten


