Die Erschütterungen der letzten Jahre haben auch mir, ähnlich wie unserem Kolumnisten Michael Andrick, stark zugesetzt. Andrick beklagt, dass „Kinder, Alte, ‚Ungeimpfte‘ und Oppositionelle gegängelt, faktisch eingesperrt, vom öffentlichen Leben ausgeschlossen“ wurden. Man könne mittlerweile begründet Angst davor haben, von der Mehrheitsmeinung abzuweichen, so der Autor. Insgesamt sieht er die Republik zunehmend korrumpiert durch ein Parteienkartell und sein „Gefolge in staatsnahen Medien und politisierten Behördenhierarchien“ und eine zu politikkonforme Justiz; der Bürger, so seine These, sei bei uns nicht mehr „verlässlich rechtsstaatlich vor Willkür geschützt“.
Während Andrick in der Pandemie all diese Sorgen entwickelte, trieb mich die Todesangst um. Die Angst um eine mir nahestehende Person, die mit dem Aufzug der Pandemie als Schwererkrankte um ihr Leben bangen musste. Es waren Stunden, Tage, Wochen und Jahre der Sorge darum, wie weit sich die Gesellschaft mit mir, mit uns solidarisch zeigen und für den Schutz meiner vulnerablen Familie die Einschränkung von Grundrechten ertragen würde. Mir war klar: Es war eine schwierige Abwägungssache, eine politische Situation, die es vorher so noch nie gab. Eine Krise, in der die Faktenlage dünn war, in der die Regierung spekulieren, mutmaßen, manchmal vom Schlimmsten ausgehen musste.
Vorsicht in Deutschland besser als Risikofreude der Polen
Wenn ich meine Gefühle mit den Sorgen vergleiche, die unser Kolumnist darstellt, dann merke ich, wie er und ich in den letzten Jahren in ein ganz unterschiedliches Realitätsbewusstsein hineingewachsen sind: Während ich in den vergangenen Jahren politische Solidarität empfunden habe, die den Schutz von Vorerkrankten ermöglichte – mit teilweise falschen Maßnahmen wie etwa der Einführung der Maskenpflicht für Kinder oder Kita-Schließungen –, erkennt mein Kollege im Rückblick „Panikmache, Gehorsamspropaganda und staatliche Diskriminierung“ in einem „repressiven Meinungsregime“ der Verfolgung Andersdenkender. Während ich Karl Lauterbach ein ehrliches – beizeiten freilich übertriebenes – Engagement für Schwache und Vorerkrankte attestiere, fordert Andrick dessen Rücktritt. Wie konnte es nur so weit kommen, dass wir beide so radikal unterschiedlich, ja ohne gemeinsames Grundverständnis in die Welt blicken?
Die Pandemie hat gezeigt, dass es besondere Krisen gibt, in denen Politiker einfach keine allgemein richtigen Entscheidungen treffen und die Rechte jedes Einzelnen verteidigen können. Diese subjektive Einschätzung möchte ich vor allem mit Blick auf Polen bekräftigen, ein Land, das sich im Laufe der Pandemie gegen die Ausweitung von Corona-Schutzmaßnahmen entschied und damit das Risiko einging, dass das Virus sich im Land großflächig ausbreiten würde.
Linke Gruppen werfen dem Staat nun grobes Versagen, Missachtung der Menschenrechte und das Inkaufnehmen Tausender Toter vor. Alte und Kranke seien unnötig gestorben, der polnische Gesundheitsminister müsse wegen seiner Corona-Ignoranz zurücktreten, der polnische Präsident sich für seine Wissenschaftsfeindlichkeit entschuldigen. Ich gebe zu: Mir ist die besondere Vorsicht in Deutschland lieber als die Risikofreude meiner polnischen Landsleute. Für den Schutz meiner Familie danke ich der Bundesregierung.
Sich einfühlen – in beide Seiten
In der Pandemie mussten Staaten abwägen und im Abwägungsprozess harte Entscheidungen treffen. Egal wie sie entschieden, mussten sich Regierende Staatsversagen vorwerfen lassen: weil sie entweder zu wenig (Polen) oder zu viel (Deutschland) gegen das Coronavirus getan hätten.
Was in dieser Auseinandersetzung nicht zu Bruch gehen darf, sind der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Akzeptanz von Meinungen anderer. Daher ist es wichtig, dass wir die Chance jetzt nutzen und gemeinsam diskutieren, wo Fehler gemacht wurden und wo Entscheidungen richtig waren – und gegenseitig Verständnis zeigen für die erlittenen Verletzungen und Traumata. Zuhören, sich einfühlen – in beide Seiten. Und sich dann gemeinsam überlegen, was wir an unseren gesellschaftlichen Institutionen verändern können, damit die leidvolle Spaltung und Entfremdung der letzten Jahre heilen kann und sich nicht wiederholt. Das wäre echte Identitätspolitik.
Dies ist ein Kommentar.





