Eine Freundin ruft mich an. Sie berichtet mir, dass sie über DDR-Wochenkrippen geschrieben hat. Interessant, sage ich. So was in der Art. Sie sei ja durch mich erst auf das Thema gestoßen, sagt sie weiter. Ich weiß, antworte ich. Und dann sagt sie, sie sei ja mal gespannt, ob ihr der Vorwurf gemacht werde, dass sie, eine Westdeutsche, über die DDR schreibe.
Kulturelle Aneignung, sage ich. Die Freundin lacht. Normalerweise würde ich mitlachen. Wir sind uns einig in diesen Dingen, eigentlich, halten nichts von gendern, sind Identitätspolitik gegenüber eher skeptisch, lästern über Kollegen, die mehr Aktivisten als Journalisten sind, lesen gegenseitig unsere Texte, egal, wo sie spielen.
Aber jetzt ist es plötzlich still in der Leitung. Die Wochenkrippen stehen zwischen uns. Die Ost-Identitätsdebatte ist bei uns angekommen. Dirk Oschmann, der sagt, der Westen habe viel zu lange und zu undifferenziert über den Osten geurteilt. Die Historikerin Katja Hoyer, die im Vorwort ihres Buches beschreibt, wie die Westdeutschen versucht haben, die DDR aus der gesamtdeutschen Geschichte „herauszuschreiben“. Der Medienforscher Lutz Mükke, der Westmedien vorwirft, was sie über den Osten schreiben, lese sich wie Auslandsberichterstattung. All die Leser, die in der Berliner Zeitung von Demütigungen in der Nachwendezeit berichten und von ihrem Leben in der DDR, egal, ob sie im Widerstand gegen das SED-Regime waren oder nicht.
Dreck am Stecken aus der Nazi-Zeit
Auch das Thema Wochenkrippe ist durch die Betroffenen selbst überhaupt erst wieder so aktuell geworden. Nach jahrelangem Leiden sind sie auf ihr Kindheitstrauma gestoßen, wollten mehr über die Einrichtungen wissen, in denen sie als Babys von ihren Eltern montags abgegeben und freitags wieder abgeholt wurden. Geschichte wird von Historikern geschrieben, aber lebendig wird sie erst, wenn Menschen erzählen, wie sie selbst in politische Systeme verstrickt waren. Ein Phänomen, das es nicht nur in Ostdeutschland gibt.
Ein Freund aus New York hat die Geschichte seines deutschen Großvaters, der Nazi war, aufgeschrieben. Zehn Jahre hat er für sein Buch „Fatherland“ recherchiert. Und jetzt, da es erschienen ist, berichten ihm viele Leser, wer aus ihrer Familie alles so Dreck am Stecken hat. Aus der Nazi-Zeit, aus der McCarthy-Ära oder aus Kriegen, die die USA geführt haben. Ich bezweifle, dass das auch ein Autor geschafft hätte, der beim Schreiben nicht so mit dem Schweigen in der eigenen Familie gerungen hätte wie mein Freund.
Das alles hätte ich der Freundin am Telefon sagen können, aber die richtigen Worte fielen mir erst ein, nachdem ich aufgelegt hatte. Auch so ein Phänomen, das mit der DDR zu tun hat, in der es immer nur eine richtige Meinung gab und ich oft das Gefühl hatte, das Falsche zu denken und lieber nichts sagte.


