Kann, muss, darf ein Staat seine wichtigsten Kunstwerke verkaufen, um Schulden bei ausländischen Gläubigern zu bezahlen? Die Debatte hat eine lange Tradition: Als Spanien in den 1870er-Jahren vor dem Staatsbankrott stand, schlugen preußische Politiker vor, die Hauptwerke des Prado zur Begleichung der Schulden heranzuziehen – mit Rabatt selbstverständlich. Die Museumsbeamten in Berlin waren enttäuscht, als Otto von Bismarck das Geschäft kategorisch ablehnte. Einen Krieg könnten Nationen verzeihen, Kunstraub dagegen nicht.
Eine Generation später war diese Maxime vergessen. Das Osmanische Reich befand sich in einer finanziellen Dauerkrise. 1913 fädelte der familiär mit der Deutschen Bank verbandelte Direktor der Berliner Antikensammlung, Theodor Wiegand, das „Museumsgeschäft“ ein: Fünf deutsche Großbanken sollten für einen Kredit von einer Million Lira, das waren etwa 18,5 Millionen Mark, Bestände des heutigen Archäologischen Nationalmuseums in Istanbul als Pfand fordern. Der preußische Staat sollte, so der Plan, das Geschäft garantieren und im Fall, dass das Pfand nicht eingelöst würde, die Bestände von den Banken für die heutigen Berliner Staatlichen Museen übernehmen. Damit die Istanbuler nicht auf falsche Ideen kämen, war zeitweise vorgesehen, sofort alle „Pfänder“ ins Berliner Alte Museum zu schaffen, mindestens aber die herausragenden Objekte wie den Alexandersarkophag aus Sidon.
Ohne jegliches Unrechtsbewusstsein
Wie in einem nun erschienenen, per Open Acess aus dem Internet kostenlos herunterzuladenden Buch der Museen zur Geschichte der Antikensammlungen auf dem Höhepunkt der Macht des wilhelminischen Kaiserreichs zu lesen ist, gingen alle in Deutschland an diesem „Geschäft“ Beteiligten davon aus, dass das Osmanische Reich seine Schulden nicht zahlen würde. Die Berliner Museen wären damit auf einen Schlag in den Besitz der gesamten Sammlung christlichen Altertümer, etlicher altorientalischer und der kostbarsten antiken Skulpturen des Nationalmuseums gekommen. Das Istanbuler Museum dagegen wäre eine provinzielle Anstalt geworden.

Das Geschäft scheiterte schließlich, weil die Deutschen ihre Forderungen immer höherschraubten und dabei nicht nur den wachsenden Einfluss der nationalistischen Jungtürken übersahen. Sie ignorierten auch, dass Frankreich ohne solch demütigende Bedingungen bereit war, dem Osmanischen Reich erheblich höhere Kreditlinien zu garantieren. Dennoch: Es gab bei den Berliner Museumsbeamten nicht den Hauch von Unrechtsbewusstsein oder wenigstens der Kollegialität gegenüber den durchaus geschätzten Istanbuler Kollegen. Ganz im Gegenteil versuchten Wiegand und sein Mitarbeiter Martin Schede – man möchte nach dem Lesen des Aufsatzes von Gabriele Mietke eher von einem Komplizen sprechen – alles, um sich im Schatten der Banken zu halten, damit die Ausgrabungsgenehmigungen etwa in Milet nicht gefährdet würden.
Dass solch ruchlose Ignoranz von Recht und Anstand zur damaligen Praxis gehörte, zeigen auch die neuesten Forschungen der Berliner Antikensammlungen zur Geschichte der Ausgrabungen in Samos. Sie begannen 1910 und dauerten bis 1914, legten vor allem die Reste des einst in der ganzen antik-griechischen Welt berühmten Hera-Heiligtums frei. Samos war bis 1913 ein halb autonomes Fürstentum unter osmanischer Oberherrschaft, dessen liberale Eliten aber nach der Vereinigung mit Griechenland strebten. Wenn die Berliner Museen also wie gehabt durch Fundteilungen ihre Sammlungen mit der Ausgrabung erweitern wollten, mussten sie sich beeilen, das war Wiegand und seinen Kollegen nur zu klar. Samos würde als Teil Griechenlands auch dessen überaus strenges Antikengesetz übernehmen. Doch begnügten sich die Berliner nicht mit den ihnen legal zugeschriebenen Objekten, vor allem hoch begehrten Architekturteilen und Kleinskulpturen. Sie wollten mehr, um vor allem der noch schwächelnden Berliner Sammlung archaischer Skulpturen zu Weltruhm zu verhelfen. Also wurden herausragende Werke mithilfe der deutschen Marine außer Landes geschafft. Wiegand plante einen großen Saal neben dem Pergamonmuseum nur für archaische Kunst, der allerdings nie errichtet wurde.
Dass man sich der Illegalität dieses Raubs – jeder andere Begriff wäre zu höflich – vollständig bewusst war, zeigt sich auch daran, dass die Kostbarkeiten aus Samos bis zum Zweiten Weltkrieg nicht öffentlich gezeigt wurden. Erst nachdem die Rote Armee sie nach Moskau geschafft und die Sowjetunion sie 1958 an die DDR übergeben hatte, kamen sie ohne Bedenken zur Ausstellung, wurden zu Glanzstücken der Neuinszenierungen im Pergamonmuseum und in dessen 1984 eingeweihtem neuen Eingangsbereich sowie seit den 1990er-Jahren im Alten Museum. Jetzt soll, so die Generaldirektion der Staatlichen Museen, über Leihverträge verhandelt werden.
Keine Aufarbeitung in der DDR
Aber warum hat nicht schon die DDR mit der Unrechtsgeschichte des Kaiserreichs gebrochen? Die Vermutung der Museumshistoriker ist, dass sich das Wissen um die illegale Erwerbung durch den Generationswandel in der frühen DDR verflüchtigt hatte. Doch gab es immer wieder Gerüchte, zumal die Übergabelisten der Fundteilungen nicht mit den vorhandenen Beständen übereinstimmen. Kaum 20 Prozent der etwa 280 Objekte aus Samos sind auf ihnen verzeichnet. Könnte es also sein, dass es der DDR-Kulturpolitik schlicht egal war, ob diese Bestände legal im Land waren? Dass sozialistische Regime kulturpolitisch keineswegs moralischer handelten als kapitalistische, beweist schon der seit 1945 andauernde Skandal um die von der Roten Armee aus ganz Mittel- und Osteuropa in die Sowjetunion geschafften und bis heute von Russland wider allen Völkerrechts zurückgehaltenen Museumssammlungen, Bibliotheken und Archive mit Millionen von Objekten. Und Griechenland war nach einem erbitterten Bürgerkrieg im westlichen Lager geblieben, während die frühe DDR vielen griechischen Kommunisten Asyl geboten hatte.
