Politik

Kein Fußbreit der Kapitalismuskritik! Alfred C. Mierzejewski vereinnahmt Ludwig Erhard: Je freier die Wirtschaft, umso sozialer

Wäre Ludwig Erhard ein Gegner von Hartz IV? Wer heute Einschnitte ins soziale Netz kritisiert, beschwört oft den ersten Wirtschaftsminister der Bundesrepublik. Die von Erhard geschaffene "soziale Marktwirtschaft" müsse verteidigt werden, hört man dann. Oskar Lafontaine etwa beruft sich in seiner neuesten Streitschrift mehrfach auf Erhard, wenn es um eine gerechte Einkommensverteilung geht, und erinnert mit dem Buchtitel "Politik für alle" an das Minister-Motto vom "Wohlstand für alle".Ludwig Erhard (1897-1977), die Wahlkampflokomotive der Adenauer-CDU, als Kronzeuge für die außerparlamentarische Opposition links der rot-grünen Koalition - treibt hier die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik kuriose Blüten? Oder haben sich die Parteiprogramme tatsächlich so verschoben, dass heute als randständig erscheint, was früher politisches Gemeingut war?Um Klärung bemüht, greift man dankbar zu einer neuen Erhard-Biografie, zumal ihr Autor, der in Texas lehrende Historiker Alfred C. Mierzejewski, zu zeigen verspricht, "was Erhard unter dem Begriff 'sozial' tatsächlich verstanden hat". Mierzejewskis Antwort fällt unmissverständlich aus. In seinem anschaulich geschriebenen und solide übersetzten Buch porträtiert er Erhard als konsequenten Verfechter der Wettbewerbsgesellschaft. Und er beansprucht ihn für seine eigene, neoliberal geprägte Weltsicht.Das Erhard-Bild, das Mierzejewski entwirft, ist durchaus überzeugend, weil er die Praxis des Wirtschaftspolitikers schlüssig auf dessen "Ideenwelt" beziehen kann: Erhard gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu jenen Ökonomen, die einen "dritten Weg" zwischen Planwirtschaft und schrankenlosem Kapitalismus suchten. Er war sehr wohl der Ansicht, dass allein die Konkurrenz auf einem freien Markt für allgemeine Prosperität sorgt. Allerdings sollte ein starker Staat garantieren, dass dieser Markt auch frei bleibt und von den Unternehmen nicht durch Preisabsprachen oder Monopole manipuliert wird.Darin bestand nach Mierzejewski schon der Kern jener ökonomischen Ordnung, die Erhard 1948 erstmals als "soziale Marktwirtschaft" bezeichnete. Damit habe er eben nicht eine durch Sozialpolitik korrigierte Marktwirtschaft gemeint; vielmehr sollte das Wortpaar vermitteln, dass der Markt an sich schon sozial sei. "Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch", so Erhard in einer Rede von 1953.Wettbewerb erzeugt Wachstum, Wachstum schafft Wohlstand, Wohlstand überwindet soziale Probleme: Das war die schlichte Formel, auf die sich Erhards Denken bringen ließ und an die er sich im politischen Handeln auch meistens hielt. Daher setzte er 1948 als Wirtschaftsdirektor der westalliierten Bizone gegen eine vielfältige Opposition durch, dass mit der Währungsreform die Güterbewirtschaftung und die Preisregulierung weitgehend aufgehoben wurden - zumindest der Auslöser für den nachfolgenden Aufschwung, das "Wirtschaftswunder". Daher rang er während seiner Ministerzeit (1949-1963) mit der westdeutschen Industrie - erfolglos - um ein strenges Anti-Kartell-Gesetz.Daher wurde allerdings auch der bundesrepublikanische Sozialstaat gegen den Widerstand Erhards aufgebaut. Die säkulare Rentenreform von 1957 bekämpfte er leidenschaftlich - Adenauer boxte sie durch. Wenn der Staat den Menschen zusichere, dass sie im Alter den erreichten Lebensstandard behielten, so Erhard, würde ihr Leistungswillen untergraben und die ganze Wirtschaftsordnung gefährdet. 1955 forderte er in einem Brief an Adenauer sogar, bestehende Sozialleistungen zu senken, um der "Entwicklung zum Versorgungsstaat" entgegenzuwirken (dies übrigens eines von zahlreichen Aktenstücken aus dem Bundesarchiv, die der Autor verarbeitet hat).Mierzejewski weist nach, dass die linke Erhard-Vereinnahmung einem Mythos aufsitzt - das kann man ihm als Verdienst anrechnen. Einen fragwürdigen Zug gewinnt sein Buch aber dadurch, dass er Erhards Prämissen übernimmt und so zu einem verqueren Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte gelangt.Folgt man Mierzejewski, befindet sich die Bundesrepublik seit Mitte der Fünfziger auf einem falschen Weg, eben weil man damals mit Sozialgesetzen (betrieblicher Mitbestimmung gar!) vom marktwirtschaftlichen Kurs abwich - und Erhard zur "tragischen Figur" machte.Von nun an stiegen die Staatsausgaben, und die Deutschen, ohnehin mit einem "Hang zum Sozialismus" geschlagen, wurden immer bequemer; daher endete das Wirtschaftswunder, und Gewerkschaftsführer mit "kollektivistischen Fantasien" führten das Land in eine "düstere Zukunft" - so krude liest man das bei Mierzejewski tatsächlich immer wieder. Sein Buch dürfte nur bei denen ungeteilten Zuspruch finden, die den heutigen Sozialstaat nicht reformieren, sondern gleich ganz abschaffen wollen.Auch andere Einschätzungen des Buches muss man zumindest als gewagt bezeichnen. Der Historiker Volker Hentschel schrieb vor einigen Jahren in einer großen Biografie Erhards, dass dieser erst 1947 Marktwirtschaftler geworden sei. Im Dritten Reich, als er unter anderem am Nürnberger "Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware" arbeitete, habe er ganz zeitgemäß einer reglementierten Ökonomie das Wort geredet: "Das liberale Prinzip hat versagt." Mierzejewski hingegen liest aus Erhards Schriften eine bruchlose gedankliche Kontinuität heraus und rückt ihn ungebührlich nahe an den Widerstand gegen Hitler.Dass Erhards Kanzlerschaft (1963-1966) als unglückliche Episode in Erinnerung geblieben ist, hat unter anderem mit seiner Außenpolitik zu tun. Am Ende waren vor allem die deutsch-französischen Beziehungen sanierungsbedürftig. Erhard sah in Präsident de Gaulle einen gefährlichen Planwirtschaftler; zudem hegte er schwere Bedenken gegen den europäischen Einigungsprozess, den Bonn und Paris auf den Weg gebracht hatten. Weil es ihm allein auf freie Märkte ankam, stand Erhard europäischen Institutionen skeptisch gegenüber, ursprünglich hatte er sie sogar ganz abgelehnt - auch dafür lobt ihn Mierzejewski. Würde sich die Politik an den Rat des Autors halten und Erhard zum Lehrer für die Gegenwart erheben: Von Europa und der Bundesrepublik, wie sie sich in fünfzig Jahren entwickelt haben, bliebe wenig übrig.------------------------------Alfred C. Mierzejewski: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Biografie. Aus dem Englischen von Anne Emmert und Norbert Juraschitz. Siedler, München 2005. 399 S., 24 Euro.------------------------------Foto: Donnerwetter! Tolle Thesen! Darauf erstmal eine Havanna.