Berlin-Der Körper kribbelt, verliert jedes Gefühl, ist wie gelähmt, die Atmung verändert sich, die Wahrnehmung verschiebt sich. Als wäre man in einem Albtraum. Als wäre man nicht wirklich da. Schockstarre ist eine Reaktion des vegetativen Nervensystems, die während einer Vergewaltigung eingeleitet wird. Der Körper hat keine Möglichkeit zu flüchten, hat keine Möglichkeit sich zu wehren, weil der Täter körperlich überlegen ist, also stellt sich der Körper tot, um zu überleben – und lässt die Grausamkeit über sich ergehen. Die Frau ist bewegungslos, wenn der Mann ihr den Penis tief in den Rachen drückt. Sie ist bewegungslos, wenn der Mann ihr die Beine auseinanderreißt. Man kann sich das nicht vorstellen, selbst das geschriebene Wort erscheint bizarr: Irgendwann muss die Überlebende aufwachen aus dieser Schockstarre und sich Hilfe suchen – und Spuren der Tat an ihrem Körper dokumentieren lassen, damit der Täter überführt werden kann.
In Berlin geschieht das meist in einer der drei Notaufnahmen der Berliner Charité: Campus Mitte, Virchow oder Benjamin Franklin. Jeder Schritt ist hier vorbestimmt, akribisch geplant.
Die Betroffene wird, gleich welche Notaufnahme sie anläuft, zuerst aufgenommen, ihre Krankenkarte wird eingelesen, ihr wird Blut abgenommen. Sie wird zur Patientin. Wenn es werktags ist, zwischen 8 und 18 Uhr, werden Mitarbeitende der Gewaltschutzambulanz der Charité angerufen, die ihre Versorgung übernehmen. „Außerhalb der Öffnungszeiten kommen Kolleginnen und Kollegen aus der Gynäkologie oder Chirurgie, wenn es sich um eine Betroffene handelt. Die Kollegen werden von uns geschult“, sagt Saskia Etzold, Abteilungsleiterin der Gewaltschutzambulanz der Charité. Deshalb ist es wichtig, dass die Betroffene vorher anruft und nicht direkt zur Gewaltschutzambulanz fährt – dort werden lediglich Untersuchungen nach rein körperlicher Gewalt vorgenommen, Fotodokumentationen wie im Falle der häuslichen Gewalt.
„Trotz der akuten Belastung für die Betroffene könnte es sein, dass sie in der Rettungsstelle warten muss. Wir sind ein Haus der Maximalversorgung, es wird immer so sein, dass ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall Priorität hat“, sagt Etzold. Wenn sich um diese Patienten keiner kümmert, kann das deren Tod bedeuten.
Verletzungen am Körper werden fotografiert und beschrieben
„Sobald wir in der Rettungsstelle eingetroffen sind, folgt eine Untersuchung nach einem sehr strengen Protokoll.“ Wenn die Frau nicht gut Deutsch spricht, wird ein Dolmetscher in der Regel per Telefon eingeschaltet. Zunächst wird die Betroffene über die rechtliche Situation aufgeklärt, sie muss der DNA-Spurensicherung schriftlich zustimmen. Hat sie bereits eine Anzeige erstattet, entbindet sie das Klinikpersonal auch von der Schweigepflicht gegenüber der Polizei. „Wenn sie all das möchte, fragen wir sie zusätzlich, ob auch ihre Blut- und Urinproben an die Beamten gegeben werden sollen, für chemisch-toxikologische Untersuchungen. Das ist wichtig, vor allem, wenn sie davon ausgeht, dass man ihr K.o.-Tropfen verabreicht hat. Dies ist aber freiwillig und keine Voraussetzung für die Untersuchung“, erklärt Etzold. Außerdem bietet man der Patientin an, einen HIV- und Hepatitis-B-Test zu machen, um einen sogenannten Nullstatus zu erheben, fall sie sich durch die Tat infiziert hat.
LARA Berlin, die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen, ist von Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr unter der +49 30 216 88 88 zu erreichen. Dort können Betroffene unabhängig von Sprache oder Beeinträchtigung beraten und unterstützt werden.
Auch die Opferhilfe Berlin bietet Unterstützung an. Sie ist unter der +49 30 395 28 67 zu erreichen. Proaktiv ist ein Pilotprojekt der Opferhilfe und eine Servicestelle für Betroffene von Straftaten. Sie erleichtert Menschen, die eine Gewalt- oder Straftat erlebt oder beobachtet haben, den Weg in die Berliner Unterstützungs- und Hilfelandschaft.
In Berlin gibt es zudem drei Trauma-Ambulanzen: für Erwachsene zum einen die Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, erreichbar unter +49 30 2311 1880; die Ambulanz Berlin im Zentrum für Psychotherapie Friedrich von Bodelschwingh-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erreichbar unter +49 30 5472 7887; für Kinder und Jugendliche gibt es die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité, erreichbar unter +49 30 450 566 229. Betroffenen soll in den Trauma-Ambulanzen eine zeitnahe, schnelle psychotherapeutische Erstversorgung angeboten werden.
Und dann kommen die Fragen, die mithilfe eines Bogens einzeln abgearbeitet werden. Medizinische – ob die Betroffene zum Beispiel Kinder hat. Medikamente einnimmt. Operationen in der Vorgeschichte hatte oder Vorerkrankungen hat. Wie schwer und wie groß sie ist. Ob sie schwanger ist – was für die Zeit danach relevant sein wird. So auch zur Tat. „Sie muss kurz schildern, was passiert und durch wen es passiert ist. Ob ihr irgendwas aufgefallen ist“, sagt Etzold.
Im nächsten Schritt wird sie systematisch am Körper untersucht: „Viele glauben, dass Frauen, die vergewaltigt werden, immer Verletzungen im Genitalbereich haben. Das ist aber fast nie der Fall“, so Etzold. Was man häufiger sehe, seien Verletzungen am Hals, weil der Täter die Frau gewürgt hat, am Handgelenk oder den Armen, weil der Täter sie fixiert hat. „Von allen sichtbaren Verletzungen werden Fotos gemacht, sie werden auch genau beschrieben. Das ist ganz wichtig für das Gerichtsverfahren“, erklärt die Medizinerin.
Auf der Suche nach Fremd-DNA
Bis zu diesem Zeitpunkt der Prozedur ist nur eine Medizinerin der Gewaltschutzambulanz anwesend. Jetzt folgt die gynäkologische Untersuchung, der Moment, in dem ein neues Gesicht den Raum betritt. „Die Betroffene muss dem Gynäkologen aber nichts mehr erzählen. Wir achten darauf, dass von Anfang bis zum Ende immer derselbe Hauptansprechpartner da ist“, versichert Etzold. Es werden DNA-Spuren aus ihrem Intimbereich gesichert. „Eine realistische Chance, damit Spuren gefunden werden können, gibt es in den ersten 72 Stunden nach Vaginalkontakt. Nach Oral- oder Analverkehr ist der Zeitrahmen deutlich kürzer.“ Auch werden Proben von ihrer Hautfläche genommen, zum Beispiel von ihrem Hals, wenn sie sich erinnert, dass der Täter sie dort geküsst oder geleckt hat. Wenn der Täter ihr den Mund zugehalten hat, werden Spuren vom Mund genommen. „Man versucht individuell, aber nach einem festen Prozedere, herauszufinden, wo sich überall Fremd-DNA befinden könnte.“
Am Ende der Untersuchung bekommt die Patientin mehrere Angebote: Die „Pille danach“, damit die Vergewaltigung nicht zur Schwangerschaft führt. Sie bekommt die Tablette direkt verabreicht und muss nicht extra zu einer Apotheke fahren, damit keine Zeit verloren geht. Und sie kann eine infektiologische Beratung für die sogenannte Postexpositions-Prophylaxe (PEP) beanspruchen – aufgeklärt wird sie von einem Infektiologen, das nächste neue Gesicht. Das Medikament kann eine Infektion verhindern, hat aber viele Nebenwirkungen. „Das ist nichts, was man leichtfertig entscheidet.“
Überwachungsvideos werden nach zwei Wochen gelöscht
Manche Betroffene sexualisierter Gewalt gehen zuerst zur Polizei, um Anzeige zu erstatten, und werden von den Beamten zur nächstgelegenen Rettungsstelle der Charité eskortiert. Manche entscheiden sich erst nach der körperlichen Untersuchung dafür, die Polizei zu benachrichtigen – sollten sie Angst vor diesem Schritt haben, gebe es auch die Möglichkeit, die Beamten zur Klinik zu rufen, um die Formulare am Ort auszufüllen. Wenn die Betroffene sich nicht sicher ist, ob sie überhaupt eine Anzeige erstatten will – zum Beispiel, weil sie den Täter kennt – können die DNA-Spuren in der Gewaltschutzambulanz für ein Jahr eingelagert werden. Vertrauliche Spurensicherung wird das genannt.
„Eine frühe polizeiliche Anzeige hat deutliche Vorteile. Man kann sich nur zu gut vorstellen, dass die Gegenseite sagen wird, der Geschlechtsverkehr sei einvernehmlich gewesen und dass die DNA daher stammt“, so Etzold. „Zusätzlich zur DNA-Probenentnahme am Körper müssen also Spuren vom Tatort gesichert werden, auch Überwachungsvideos müssen manchmal ausgewertet werden – die werden nach zwei Wochen unwiederbringlich gelöscht. Es müssen Zeugen befragt werden. Je früher das passiert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man wichtige Beweise findet.“
Aber was passiert danach? Die Polizei nimmt ihre Ermittlungen auf, ja – aber was passiert mit dem Menschen, der durch die Hölle gehen musste? „In der Klinik können sie mit einem Psychiater sprechen, in der Gewaltschutzambulanz kann eine Traumaberaterin der Opferhilfe ins Haus geholt werden. Aber viele wollen das gar nicht“, bekräftigt Saskia Etzold. „Sie wollen heim, um zu schlafen. Stellen Sie sich vor: Die Tat passiert nachts. Sie gehen am nächsten Morgen zur Polizei oder Rettungsstelle. Dann das ganze Prozedere. Danach ist man todmüde.“ Und steht unter Schock. Deshalb werden Betroffenen auch Infomaterialien mitgegeben, unter anderem zur Nachfolgeuntersuchung und mit Kontaktadressen für Beratungsstellen. „Manche erstatten erst Wochen nach der Tat eine Anzeige, nachdem sie sich haben beraten lassen.“
Jährlich 300 bis 350 Fälle sexualisierter Gewalt
300 bis 350 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung gegen Erwachsene pro Jahr registriert die Charité allein. Diese Expertise ist der Grund, wieso die Polizei Betroffene zu einer der drei Notaufnahmen Campus Mitte, Virchow oder Benjamin Franklin fährt. „In einem peripheren Krankenhaus, wo es nur ein bis zwei Fälle jährlich gibt, fehlt natürlich die Erfahrung“, so Etzold. Bei den 300 bis 350 Fällen handelt es sich um Erwachsene über 18 Jahre, bei 98 bis 99 Prozent betrifft es Frauen. „Aus unserer Erfahrung kann man sagen: In 80 Prozent der Fälle kennen sich Täter und die Betroffene, bevor es zur Tat kommt“, sagt Etzold. Gewalt, die vom Partner oder Ex-Partner ausgeht, zum Beispiel. Im Corona-Lockdown sei es medizinisch betrachtet zu besonders schweren Fällen gekommen, schwer verletzte, teils lebensbedrohlich verletzte Frauen, die so gut wie alle Anzeige erstatteten.
Bei den 148.031 Fällen in Partnerschaften wurden meist eine vorsätzliche einfache Körperverletzung (61,6 Prozent), gefolgt von Bedrohung, Stalking und Nötigung (12,2 Prozent) sowie gefährliche schwere Körperverletzung (12,2 Prozent) erfasst.
Registriert wurden außerdem 3389 Opfer von sexuellen Übergriffen, sexueller Nötigung und Vergewaltigung sowie 1759 Opfer von Freiheitsberaubung. Insgesamt wurden 460 Personen als Opfer von versuchtem und vollendetem Mord und Totschlag erfasst.
Die Anzahl der Opfer bei vollendetem Mord und Totschlag lag bei 158, davon 132 weibliche und 26 männliche. Hinzu kommen sieben Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge durch Partnerschaftsgewalt bei Frauen und vier Fälle bei Männern. Damit sind 2020 139 Frauen und 30 Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt mit tödlichem Ausgang geworden.
Die Gewalt fand in 37,9 Prozent der erfassten Fälle zwischen ehemaligen Partnerinnen und Partnern statt, in 32,3 Prozent zwischen Ehepartnerinnen und Ehepartnern und zu 29,4 Prozent zwischen Partnerinnen und Partnern in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften.
Beim Rest der Fälle handele es sich um Zufallsbekanntschaften, Touristinnen, die in ihrer Hostelbar jemandem begegnet sind und später, auf dem Zimmer, von ihm sexuell angegriffen wurden. „Oder Frauen, die jemanden bei Tinder kennengelernt haben, mit ihm spazieren gegangen sind und danach nach Hause und es dort zur Vergewaltigung kam“, erklärt die Medizinerin. Das wäre im Lockdown 2020 oft vorgekommen, „weil man sonst nirgendwohin konnte“.
Das Problem mit den Berliner Clubs
In Berlin gibt es noch das Problem mit den Clubs. K.o.-Tropfen oder andere Drogen, die in Getränke gekippt werden – diese Fälle kommen immer wieder vor. „Oder auch Frauen, die montags oder dienstags in der Gewaltschutzambulanz anrufen und erzählen, dass sie am Wochenende feiern waren und eine Erinnerungslücke von vier, fünf Stunden haben. Sich nicht mehr erinnern können, wo sie waren und was sie gemacht haben. Und sie fragen uns, ob wir ihnen helfen können.“ Und? „Leider nicht. Das Problem an K.o.-Mitteln oder ähnlichen Substanzen ist, dass sie in kürzester Zeit wieder abgebaut werden. Es gibt also einen sehr engen Zeitrahmen, indem diese nachgewiesen werden können.“ Jetzt, wo 2G-Clubpartys stattfinden, sei die Zahl solcher Fälle zurückgegangen. „Ich weiß nicht, ob es mit mehr Sicherheitspersonal vor Ort zu tun hat, oder der Tatsache, dass die Besucher ihre Personalien angeben müssen.“
Was zumindest nach Erfahrung der Charité sehr selten vorkomme, sei das, was Filme und Serien suggerieren: Die Frau läuft nach Feierabend durch einen dunklen Park und der maskierte Mann springt aus dem Busch hervor und vergewaltigt sie. „Das ist nicht der Alltag der Sexualdelikte da draußen“, sagt Etzold.
„Das grundlegende Problem – und das ist nicht nur ein Berliner Problem, sondern ein bundesweites – ist, dass es für die Versorgung nach sexualisierter Gewalt keinen medizinischen Standard gibt“, sagt Karin Wieners von S.I.G.N.A.L. e.V. – Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt. Der gemeinnützige Verein engagiert sich in Berlin seit 2002 für eine Beachtung häuslicher und sexualisierter Gewalt in der gesundheitlichen Versorgung.
Ablaufpläne zur Versorgung und Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt, wie sie in den drei Charité-Rettungsstellen sowie in den DRK Kliniken Westend oder im evangelischen Waldkrankenhaus Spandau existieren, gebe es nicht an allen Krankenhäusern und für alle ambulanten Praxen. Es fehle an einem klaren fachlichen Standard, was zur Behandlung, zur Spurensicherung und Dokumentation und zur, auch psychologischen, Nachsorge gehört. „Das führt dazu, dass es dem Zufall überlassen bleibt, ob eine Betroffene sexualisierter Gewalt auf eine engagierte, qualifizierte Person im medizinischen Bereich trifft oder nicht. Und ob diese Person einer akut traumatisierten Frau sicher und ruhig helfen kann oder ob sie mit der Situation überfordert ist“, so die Gesundheitswissenschaftlerin weiter. Es kann also passieren, dass eine Betroffene zwar medizinisch versorgt wird, aber alles, was darüber hinaus geht, nicht erfolgt.
„Pille danach“ wird nur bis zum 22. Lebensjahr erstattet
Das Malheur der Versorgungssituation zeigt sich auch darin, dass die „Pille danach“ zur Verhinderung einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung nur Frauen bis zum 22. Lebensjahr erstattet wird. Wer älter ist, muss sie selbst zahlen. Oder eine HIV-Risikoeinschätzung gegebenenfalls unterbleibt oder Betroffenen mitgeteilt wird, sie müssten die Prophylaxe zur Verhinderung einer HIV-Infektion selbst finanzieren. Oder dass Kostenträger die Übernahme von Behandlungskosten verweigern. Auch über Wissenslücken unter Medizinern wird berichtet, so auch darüber, dass bei Abbruch einer Schwangerschaft, die durch eine Vergewaltigung entsteht, keine Beratung erfolgen muss, sondern eine kriminologische Indikation ausreicht. „Wenn die Frauen trotzdem den Weg zur Beratungsstelle gehen müssen, ist das zusätzlich belastend “, sagt Wieners.
Einheitliche Richtlinien fehlen auch für die vertrauliche Spurensicherung. So gebe es Kliniken, die eine Spurensicherung nach vaginaler Vergewaltigung mit Samenerguss auch fünf Tage nach der Tat anbieten, während andere grundsätzlich nur bis zu 72 Stunden nach dem Übergriff Spuren sichern. Auch die Lagerung vertraulich gesicherter Spuren erfolge unterschiedlich, eigentlich meist in einem Institut für Rechtsmedizin. Eigentlich. Hier in Berlin gibt es dieses zentrale Angebot nicht. Kliniken, die eine vertrauliche Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt anbieten, müssen intern Möglichkeiten für eine sichere Lagerung der Spuren finden. Große Unterschiede bestehen zudem bei der Dauer der Spurenlagerung. „Auch damit wird von Bundesgebiet zu Bundesgebiet unterschiedlich umgegangen. Es gibt Einrichtungen, die lagern Spuren drei Jahre lang, andere lagern zehn Jahre, in Berlin ist es ein Jahr.“ In der Hauptstadt bestehe auch das Problem, dass die vertrauliche Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt nicht täglich und rund um die Uhr gewährleistet ist. Die Gewaltschutzambulanz bietet diese Leistung zwar Montag bis Freitag tagsüber und nach telefonischer Terminabsprache an. Viele Taten erfolgen jedoch am Abend, in der Nacht und am Wochenende – „auch das ist eine Lücke, die in Berlin dringend geschlossen werden muss“, sagt Wieners.
Schlussendlich ist es derzeit also ein Glücksfall, in welchem Bundesland oder auch in welcher Stadt man lebt, welche Art und Qualität von Versorgung man erhält. „Das finde ich ganz schlimm“, sagt Wieners. „Ein Beispiel guter Praxis – zumindest hinsichtlich der Begleitung von Betroffenen – besteht aus unserer Sicht in Freiburg. Wenn eine Betroffene nach einer Vergewaltigung zur Polizei oder in eine Klinik geht, wird sie gefragt, ob sie eine Beraterin an ihrer Seite haben will. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann dann jemand kommen und begleitet diese Frau auf Wunsch durch den gesamten Prozess.“ Solch ein System auch für Betroffene in Berlin umzusetzen – „das wäre ein großes Ideal. Aber davon sind wir noch weit entfernt“.
Noch eine Beratungsstelle wie LARA dringend nötig
In Berlin gibt es mit LARA nur eine Fachberatungsstelle für Frauen* nach sexualisierter Gewalt. Es mangelt an Ressourcen, die Beratungsstelle ist unterfinanziert, es gibt teils lange Wartezeiten. Klar ist: Eine einzige Beratungsstelle kann den Bedarf für die gesamte Stadt nicht decken. „Für die Betroffenen ist das eine katastrophale Situation“, sagt Wieners. Wozu ihnen aktuell oft geraten wird: die Opferhilfe oder eine der Trauma-Ambulanzen anzurufen. Auch proaktiv, eine Servicestelle für Betroffene von Straftaten, kann möglicherweise eine zeitnahe Beratung vermitteln.
„Wir brauchen in Berlin dringend mindestens eine weitere Beratungsstelle wie LARA für die psychosoziale Unterstützung“, sagt Wieners. Für die medizinische Versorgung sowie Dokumentation und Spurensicherung braucht es ihrer Meinung nach eine Leitlinie, in die wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrungen aus der Praxis und Bedürfnisse Betroffener einbezogen werden. Die gesundheitliche Versorgung müsse dabei finanziell angemessen abgesichert werden – zum Beispiel durch eine eigene Abrechnungsziffer, in der alle relevanten Leistungen umfasst sind. Darunter auch die Kooperation mit anderen, weiterführenden Unterstützungseinrichtungen.
Hohe Dunkelziffer vermutet
Im Hinblick auf die gesetzlich vereinbarte kassenfinanzierte vertrauliche Spurensicherung und Dokumentation nach sexueller Gewalt und Misshandlung plädiert Wieners für eine zügige Umsetzung. Die Versorgung müsse niedrigschwellig sein, dezentral und wohnortnah. „Aus unserer Sicht sollte es in jedem Bezirk mindestens eine rund um die Uhr erreichbare medizinische Einrichtung geben, die in der Versorgung nach sexualisierter und häuslicher Gewalt qualifiziert ist und auch die vertrauliche Spurensicherung und Befunddokumentation anbietet.“
„Und sobald das steht, braucht es eine Kampagne zum Thema und zum Versorgungsangebot. Und zwar nicht nur für eine Weile, sondern über viele Jahre hinweg, damit jede und jeder weiß, wohin sie oder er sich nach sexualisierter Gewalt wenden kann.“ Wieners geht davon aus, dass derzeit viele Frauen und auch Männer nach einer Vergewaltigung keine Hilfe im Gesundheitssystem suchen, weil sie Angebote nicht kennen oder schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Was es außerdem braucht: ein bundesweites Netzwerk, ein Gremium, in dem alle Kliniken, die in der Versorgung involviert sind, sowie Polizei und Beratungsstellen, immer wieder zusammenkommen und sich fachlich austauschen. Sie könnten die Leitlinie für sexualisierte Gewalt gemeinsam erarbeiten und diese auch gemeinsam aktualisieren, wie es in anderen medizinischen Bereichen auch praktiziert wird.





