Sie hat in diesem Jahr den Nobelpreis nicht bekommen, obwohl viele damit gerechnet hatten. Denn Katalin Karikó legte die Grundlagen für die ersten Impfstoffe gegen Corona, die vor einem Jahr bedingt zugelassen wurden: die Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna. Diese beruhen auf einer neuartigen, sogenannten mRNA-Technologie.
Diese Technologie sei kaum erforscht und riskant, sagen Impfgegner und Zweifler. Dabei arbeitet die heute 66-jährige Katalin Karikó seit den 1970er-Jahren mit dem angeblich so geheimnisvollen Stoff der „Gen-Impfung“, der Ribonukleinsäure (RNA). Es ist eine Geschichte mit häufigem Auf und Ab, mit Demütigungen und letztlichem Erfolg, an die zum Ende des für sie so wichtigen Jahres erinnert werden soll.
Katalin Karikó wurde 1955 in der ungarischen Stadt Szolnok geboren. Sie interessierte sich schon früh für Biologie. Sie stand daneben, wenn ihr Vater, ein Metzger, Schweine schlachtete. Sie kletterte auf Bäume, um Vogelnester zu untersuchen, und gewann als Schülerin einen landesweiten Preis im Fach Biologie.
Abends tanzt sie, am Tage versucht sie, RNA herzustellen
1973 begann sie ein Biologiestudium an der Universität Szeged, schrieb später ihre Doktorarbeit. Da kam sie zum ersten Mal in Kontakt mit der RNA. „Abends geht sie aus, tanzt, lernt ihren späteren Mann kennen. Tagsüber sitzt sie im Labor und versucht, RNA herzustellen“, heißt es in einem Artikel im Zeit-Magazin. Sie habe diese Zeit später als die glücklichste ihres Lebens bezeichnet.
Zunächst ein kleiner Exkurs zur RNA: Während in der DNA im Kern jeder Zelle unser Erbgut gespeichert ist – die Information für den Bau unseres gesamten Körpers –, hat die RNA viele Funktionen. Unter anderem dient sie dazu, genetische Informationen aus dem Zellkern in die Zelle zu bringen, damit dort Proteine gebildet werden, die verschiedenste Aufgaben im Körper erfüllen. Dies passiert in den Ribosomen. Der Prozess nennt sich Proteinsynthese.
Ohne Proteine, die Werkzeuge für unzählige Prozesse im Körper, wäre das Erbgut nur ein Bauplan, der im Zellkern liegt. Niemals würde daraus ein lebendiges Gebäude entstehen. Die Botin wiederum, die den Bauplan zu den Bauarbeitern in der Zelle bringt, nennt sich messenger-RNA (mRNA). Genau diese befindet sich auch im Impfstoff von Biontech/Pfizer und Moderna auf der Grundlage der Technologie von Karikó.
Der Bauplan für Teile des Coronavirus wird in den Körper injiziert
Den Vorgang kann man sich vereinfacht so vorstellen: Man wird geimpft. Die mRNA gelangt – in winzigste Lipidhüllen gepackt – zu den Zellen. Sie enthält den Bauplan für ein bestimmtes Protein des Virus. Der Plan gelangt aber nicht in den Zellkern, sondern zu den Protein-Fabriken in der Zelle, den sogenannten Ribosomen. Diese stellen das Protein nach Vorlage her. Das Immunsystem identifiziert das neue Protein sofort als Eindringling und bekämpft es. Zugleich fügt es dessen Steckbrief denen bereits bekannter Eindringlinge hinzu. Wenn nun das echte Sars-CoV-2 Virus erscheint, ist das Immunsystem darauf vorbereitet.
Der Steckbrief beschreibt nur einen Teil des Coronavirus, das sogenannte Spike-Protein – die stachelartigen Gebilde auf der Oberfläche von Sars-CoV-2. Mit ihnen dockt das Virus an den Zellen an, um in sie einzudringen und sich rasant zu vermehren. Ist das Immunsystem vorbereitet, setzen sich schon Antikörper an das Spike-Protein und blockieren es. Schwierig wird es, wenn sich im Laufe der Zeit sehr viele Stellen des Spike-Proteins durch Virusmutationen ändern. Dann muss der Bauplan, den die mRNA mit der Impfung überbringt, angepasst werden.

Die bei manchen verbreitete Angst, dass bei diesem Prozess das menschliche Erbgut im Zellkern beeinflusst wird oder die mRNA sich irgendwo einlagert, ist unbegründet. Katalin Karikó, die Entwicklerin dieser Technologie, hatte Zeit ihres Lebens damit zu kämpfen, die mRNA überhaupt für die Medizin wirksam zu machen. Denn diese ist sehr flüchtig. „Sie wissen, dass ich mich knapp 40 Jahre damit beschäftigt habe“, sagte Karikó jüngst in einem Interview. „Während dieser Jahre hat man immer wieder gesagt: Oh, es baut so schnell ab! Und nun kommt man damit, dass es sich anreichern könnte. Nein, die mRNA wird schnell abgebaut.“
Doch wie hatte alles begonnen? Ein Blick zurück. Als Katalin Karikó in den 1970er-Jahren in Szeged studierte, kannte man die mRNA noch nicht lange. Diese war erst 1960 entdeckt worden. Und während ihrer Forschung kam Karikó auf die Idee, dass man künstliche mRNA nutzen könnte, um Zellen zur Produktion wichtiger Proteine anzuregen, die bei manchen Krankheiten fehlen. Sie wurde dafür ausgelacht. „Ich stellte mir vor, dass jeder etwas mRNA im Kühlschrank hat oder im Gefrierschrank“, erzählt sie heute. „Und wenn man am Fuß eine Blase hat oder sonst etwas, dann schmiert man mRNA darauf, und das heilt. So dachte ich mir das.“
Nach Misserfolg in Ungarn wanderte Karikó in die USA aus
Die Selbstironie dient ihr auch dazu, den damaligen Misserfolg einzuordnen. Während in den 1980er-Jahren Milliarden an Fördergeldern in die Erforschung der DNA flossen, sah man im Ansatz von Karikó einen Irrweg. Die ungarische Pharmafirma, die ihre Forschungsarbeiten finanzierte, zahlte nicht mehr. Karikó verlor ihre Postdoc-Stelle, und weil sie in Ungarn keine Chance mehr sah, wanderte sie 1985 in die USA aus – mit ihrem Mann Béla Francia, einem Ingenieur, und ihrer zweieinhalbjährigen Tochter Zsuzsanna. Im Teddy der Tochter waren 900 britische Pfund eingenäht – der Schwarzmarkt-Erlös für ihren alten Lada. Und das Startkapital für ihren Neubeginn in Philadelphia.
Dieser Neustart war ungeheuer schwer. Ihr Mann musste sein Geld mit Putzen, Rasenmähen und Auto-Reparaturen für andere verdienen. Sie lebten in einem Wohnblock. Niemand habe ihnen geholfen, erzählte Karikó. Sie selbst arbeitete drei Jahre im Labor der Temple University in Philadelphia, bei der sie sich beworben hatte.
In jener Zeit gab es eine grundlegende technische Neuerung: Mit einem Gerät, Thermocycler genannt, gelang es zum ersten Mal, DNA schnell zu vermehren und daraus RNA zu gewinnen. Auch gab es inzwischen Möglichkeiten, mRNA schnell in eine Zelle zu bringen. „Schon nach einer halben Stunde sah man das Protein, das entstanden war“, erzählt Karikó im Zeit-Magazin. „Das war sensationell!“
Sie stürzte sich erneut in die Forschung, dieses Mal mit mehr Aussicht auf Erfolg. 1989 wechselte sie an die Medizinische Fakultät der University of Pennsylvania. Die Skepsis der anderen Forscher blieb. „40 Jahre lang habe ich Projektförderung beantragt, aber nie einen Penny bekommen“, erzählt sie. Die mRNA schien als Medikament ungeeignet. Denn das Immunsystem ordnete diese sofort als fremd ein und bekämpfte sie.
Der Durchbruch: Endlich konnte die Botin den Bauplan in die Zellen bringen
Zehn Jahre lang war Karikó in den USA gegen den Forschungs-„Mainstream“ geschwommen. Hinzu kam ein Streit mit einer Kollegin an der University of Pennsylvania. Alles zusammen führte zur Degradierung als Professorin. Sie konnte nun nicht mehr auf einen eigenen Lehrstuhl hoffen. Doch sie blieb an der Uni, besorgte sich selbst Forschungsgelder, hielt an ihrer Idee fest, dass in der mRNA die Zukunft liege. Dann lernte sie den Immunologen Drew Weissman kennen. Am Kopierer auf dem Flur soll es zu folgendem Dialog gekommen sein: Karikó: „Ich kann RNA machen“. Weissman: „Ich will einen Impfstoff gegen HIV machen. DNA funktioniert nicht, kann ich von dir RNA bekommen?“ Karikó: „Kein Problem!“
Es blieb nur noch die „Kleinigkeit“, dass der Körper die mRNA gar nicht erst zum Zuge kommen ließ, sondern sofort bekämpfte. Viele Versuche waren nötig, bis Karikó und Weissman einen Weg fanden. Sie veränderten bestimmte Moleküle der mRNA, die zu den sogenannten Nukleosiden gehören. Konkret ersetzten sie den natürlichen Baustein Uridin durch synthetisches Pseudouridin. Die mRNA wurde nicht mehr bekämpft und konnte ihre Botschaft zu den Zellen bringen, die dann große Mengen des benötigten Proteins bildeten.
2013 kam Karikó nach Deutschland zum Mainzer Biotechnologie-Unternehmen Biontech, gegründet von Ugur Sahin und Özlem Türeci, wo sie heute Senior Vice President ist. Sie wollte ihre Technologie in praktische Therapien umsetzen. Sie habe gehofft, dass es irgendwann „wenigstens einem Patienten“ durch ihre Behandlung besser gehen werde, sagte sie. Zunächst arbeitete sie an einer mRNA-Therapie gegen Krebs. Doch 2020 begann die Corona-Pandemie, und ein Impfstoff gegen Covid-19 wurde gebraucht. Als eines von vielen Unternehmen weltweit beteiligte sich auch Biontech daran. Das bis dahin unbekannte Mainzer Unternehmen entwickelte die erste mRNA-Impfung, auf Basis der Technologie von Karikó. Der Impfstoff Comirnaty entstand in Kooperation mit dem US-Pharmariesen Pfizer.

Die mRNA-Technologie hat aber auch den Weg zu einer neuen Klasse von Medikamenten eröffnet: gegen Krebs und Erbkrankheiten. Anfang Dezember erst feierte Biontech Richtfest für die weltweit erste Anlage zur Herstellung „individualisierter Produkte für die Krebs-Immuntherapie“. Für eine Immuntherapie gegen Hautkrebs hat in den USA bereits ein Zulassungsverfahren begonnen. Auch eine Therapie gegen Dickdarmkrebs soll entwickelt werden.
Das Prinzip ist ähnlich wie bei der Corona-Impfung: Mithilfe der Botin mRNA soll dem Immunsystem von Krebskranken beigebracht werden, bestimmte Proteine von Krebszellen als fremd zu erkennen und diese abzutöten. Der durch die mRNA übermittelte Bauplan für die Proteine soll an die Krebsarten der einzelnen Patienten angepasst, personalisierte Impfstoffe entwickelt werden.
Das, wofür Katalin Karikó einst verlacht wurde, hat sich zur Technologie für modernste, personalisierte Medizin entwickelt. Viele Forscherinnen und Forscher arbeiten inzwischen daran. Und unzählige Kranke hoffen darauf – auch wenn es sicher kein Wundermittel sein wird. Karikó selbst forscht mit ihrem Team an einer mRNA-Therapie gegen die genetisch bedingte Hautkrankheit Epidermolysis bullosa. Bei den Betroffenen ist die Haut so verletzlich wie die Flügel eines Schmetterlings. Man nennt sie deshalb „Schmetterlingskinder“.
Wissenschaftler haben nicht genug getan, um die Öffentlichkeit aufzuklären
Dass Katalin Karikó inzwischen viele Auszeichnungen erhält und als Nobelpreis-Kandidatin gehandelt wird, löst bei ihr ein leicht ungläubiges Lächeln aus. Bisher war ihre Tochter Zsuzsanna „Susan“ Francia der Star der Familie – als zweifache Olympiasiegerin und fünffache Weltmeisterin im Rudern. Doch nun zeigt ein großes Wandbild in Budapest die Mutter. Und die University of Pennsylvania, die sie 2013 verlassen hat, mag es vielleicht bedauern, sie nicht zur Professorin gemacht zu haben. Allerdings hält die Universität das Patent auf die mRNA-Methode. Und die Lizenz dafür haben auch nicht Karikó und Weissman, sondern die Unternehmen Biontech – als Unternehmen in Mainz „An der Goldgrube“ ansässig – und Moderna in den USA.
Mit dem Biontech-Impfstoff gegen Corona wurden inzwischen Milliarden Menschen weltweit geimpft. Manche aber haben auch Bedenken wegen der verimpften mRNA. Und Katalin Karikó kann das verstehen. Nicht, weil sie die Bedenken teilt (sie hat sich auch selbst mit Comirnaty impfen und boostern lassen), sondern weil ihrer Meinung nach Fehler in der Kommunikation gemacht wurden.
