Kolumne Pflefefall

Ricardo Lange: Uns Pflegern wurde applaudiert, aber jetzt lässt man uns im Stich, Herr Lauterbach!

Still und heimlich bahnt sich gerade die nächste Streikrunde des medizinischen Personals an. Die Pflegenden wurden hinters Licht geführt. Eine Kolumne.

Auf einer Intensivstation in Sachsen werden derzeit etwa ein Viertel weniger Betten betrieben. Grund sei Personalmangel und die Einführung der Pflegepersonaluntergrenzen, sagte eine Sprecherin.
Auf einer Intensivstation in Sachsen werden derzeit etwa ein Viertel weniger Betten betrieben. Grund sei Personalmangel und die Einführung der Pflegepersonaluntergrenzen, sagte eine Sprecherin.Waltraud Grubitzsch/picture alliance

Still und heimlich bahnt sich gerade die nächste Streikrunde des medizinischen Personals an. Wir sind eine Randnotiz, obwohl es noch nicht lange her ist, dass wir Pflegekräfte vor fast jede Kameralinse gezerrt und unsere verzweifelten Gesichter für die Titelseiten abgelichtet wurden. Je dramatischer, desto besser.

An den katastrophalen Zuständen hat sich bis heute nichts geändert – im Gegenteil: die Versorgung von Alten, Kranken und schwachen Menschen verschlechtert sich zusehends. Die meisten Politiker und Prominente, die sich damals auf unsere Seite gestellt haben, um sich selbst ins gute Licht zu rücken, lassen uns heute am ausgestreckten Arm verhungern. Der Applaus ist verhallt, der Lavendel vertrocknet. „Hört auf zu jammern!“, lautet heute die Devise.

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Berliner Zeitung/Markus Wächter
Zur Person
Ricardo Lange, 41, wuchs in Berlin-Hellersdorf auf. Um sich gegen Übergriffe behaupten zu können, betrieb er Kampfsport und Bodybuilding. Er arbeitete als Fitnesstrainer und bei der Polizei, bevor er sich zum Intensivpfleger ausbilden ließ und in diesem Beruf seine Berufung fand.

Für eine Zeitarbeitsfirma
springt Lange in Berliner Krankenhäusern ein, in denen die Personalnot am größten ist. Im Januar hat er ein Buch über den Pflegenotstand veröffentlicht: „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ (dtv). Er ist Kolumnist der Berliner Zeitung.

Es wird uns Lohnverzicht gefordert

Wenn Menschen unter dem Fachkräftemangel im Gesundheitswesen leiden – was soll‘s! Aber wehe es gibt Chaos an den Flughäfen und der Deutsche kann nicht in den Urlaub fliegen, dann ist die Hölle los. Wenn der Öffentliche Nahverkehr stillsteht und der Müll nicht mehr abgeholt wird, überschlagen sich die Medien.

Wir kleben uns nicht auf den Asphalt, wir gehen nicht zu Tausenden auf die Straße. Kurzum, wir sind nicht radikal genug.

Wir springen ein, verzichten auf unsere Pause und stehen jedes Mal stramm, wenn es darum geht, Personallücken zu stopfen. Und da unsere Berufsgruppe ja so devot ist, fordern die Arbeitgeber laut Verdi obendrauf noch ein „Sonderopfer“ von den Beschäftigten in den Kliniken und der Altenpflege: Lohnverzicht, wenn es dem Unternehmen wirtschaftlich schlecht geht.

Leere Worthülsen seitens der Politik

Wie dreist muss man sein, zu denken, man könnte von denen, die täglich bereits alles geben, noch mehr verlangen?

Mit dem Ende der Pandemie scheinen auch die Probleme des Gesundheitswesens wieder aus den Köpfen der Menschen verschwunden zu sein. Die größte Chance für Veränderungen ist uns also durch die Lappen gegangen. Hätten wir in dieser Zeit gestreikt, hätten wir es abgelehnt ohne ausreichende Schutzkleidung zu arbeiten und klare Grenzen gesetzt, hätten wir mit Sicherheit mehr bewegen können als heute.

Statt aus diesen Fehlern zu lernen, lassen wir uns immer noch mit leeren Worthülsen seitens der Politik abspeisen, halten das kranke System weiter am Laufen und verhindern damit, dass die katastrophalen Zustände von der Bevölkerung wahrgenommen werden.

Wir müssen protestieren

Wenn selbst Krisen, die die ganze Welt betreffen, Politik und Gesellschaft nicht wachrütteln, müssen wir uns selbst Gehör verschaffen und Missstände sichtbar machen, statt uns immer wieder emotional erpressen zu lassen.

Die Wahrheit ist, dass jeden Tag Menschen gefährdet sind oder sterben, weil sich die Politik und allen voran Herr Lauterbach und die Arbeitgeber auf Scheinlösungen ausruhen, die die Probleme nicht beseitigen, sondern zum Teil sogar verschärfen.

Lösungen gibt es genug, man muss aber auch gewillt sein, diese umzusetzen: So zeigt zum Beispiel die Studie „Ich pflege wieder, wenn…“, die von der Bremer Arbeitnehmerkammer veröffentlicht wurde, dass mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte und optimistisch gerechnet sogar bis zu 583.000 in den Beruf zurückkehren würden, wenn sich unter anderem folgende Arbeitsbedingungen verbessern würden: eine Personaldecke, die sich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet, mehr Zeit für menschliche Zuwendung, verbindliche Dienstpläne, ein respektvoller Umgang innerhalb der gesamten Belegschaft und eine bessere Bezahlung, die übrigens nicht an erster Stelle stand.

All das sind keine utopischen Vorstellungen, sondern die Grundvoraussetzung für ein Gesundheitssystem, in dem die Patienten und Bewohner an erster Stelle stehen, ohne dass das Personal dafür verbrannt wird.

Man sollte sich bewusst machen, dass in der Pflege deutschlandweit rund zwei Millionen Menschen arbeiten – eine gewaltige Stimme. Es wird Zeit, diese auch zu nutzen!

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