Pflegenotstand

Kinderkliniken in Berlin gesperrt: „Wir leben in einem gefährlichen Mangelland“

Wegen des Pflegenotstands müssen kranke Kinder und Jugendliche aus Berlin nach Brandenburg verlegt werden. Das hat auch mit Personaluntergrenzen zu tun.

Kinderkliniken in Berlin berichten, dass Kinder und Jugendliche in fachfremden Abteilungen oder gleich in Brandenburg untergebracht werden müssen.
Kinderkliniken in Berlin berichten, dass Kinder und Jugendliche in fachfremden Abteilungen oder gleich in Brandenburg untergebracht werden müssen.imago

Berlin-Der akute Pflegenotstand trifft seit Wochen die Berliner Kinderkliniken in gefährlichem Ausmaß. Wie der Verband der Leitenden Kinderärzte und Kinderchirurgen bereits Anfang September in einer Pressemitteilung warnte, müssen derzeit viele Patientenbetten für die kinder- und jugendmedizinische Versorgung in Berlin gesperrt werden. Die Lage habe sich so zugespitzt, dass junge Menschen, die stationär aufgenommen werden mussten, wegen Pflegemangel nicht versorgt werden konnten und nach Brandenburg verlegt wurden.

Das bedeute insbesondere für Eltern erhebliche organisatorische Schwierigkeiten, so die Mediziner um Beatrix Schmidt, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des St. Joseph Krankenhauses in Tempelhof, und Frank Jochum, Chefarzt der Klinik für Neugeborenenmedizin des Martin-Luther-Krankenhauses. Teils würden Patienten trotz hoher Entzündungsanzeichen nach Hause geschickt, die Angehörigen mussten sich selbst um eine anderweitige stationäre Aufnahme kümmern. Solche Umstände seien gefährlich, sagen Schmidt und Jochum. In anderen Kliniken müssen kranke Kinder und Jugendliche in fachfremden Abteilungen untergebracht werden, zum Beispiel Mädchen auf gynäkologischen Stationen.

Mediziner warnen vor „katastrophalem Herbst“

Der Verband appelliert an die Politik, sich dringend und so schnell wie möglich um die medizinische Versorgung der Berliner Kinder und Jugendlichen zu kümmern. Als Sofortmaßnahme hatten die Ärzte vorgeschlagen, die Pflegepersonaluntergrenzen auszusetzen – zumindest dann, wenn die pädiatrische Versorgung wegen Bettenmangel nicht mehr gesichert sei. Die Untergrenzen werden als maximale Anzahl von Patientinnen und Patienten pro Pflegekraft festgelegt, allerdings ohne den unterschiedlichen Pflegebedarf der einzelnen Kranken zu berücksichtigen. 

Tausende Pflegekräfte während der Pandemie arbeitslos

Von Maria Häußler, Jochen Knoblach

12.03.2021

Zu diesem Punkt hat sich nun Professor Stefan Sell aus Koblenz in seinem sozialpolitischen Blog „Aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik“ zu Wort gemeldet. Er warnt: Es handele sich bei den Personaluntergrenzen um eine „höchst gefährliche Angelegenheit“.

„Die wirklich erschreckende Botschaft aus der aktuellen Diskussion über die Pflegepersonaluntergrenzen“, so Sell, laute: „Wir leben in einem gefährlichen Mangelland.“ Der Mangel spitze sich allerorten zu. „Was als unterste Schutzgrenze gedacht war, entpuppt sich für einen nicht kleinen Teil der Kliniken als eine nicht-realisierbare Herausforderung“, kritisiert der Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik die deutsche Gesundheitspolitik. „Wir ernten jetzt an vielen Stellen die Folgen jahrelanger Einsparungen und Kürzungen und Arbeitsverdichtungen und sonstiger betriebswirtschaftlich motivierter ‚Optimierungen‘.“ Diese seien so weit getrieben worden,  „dass Untergrenzen als nicht erreichbare Obergrenzen erscheinen“.

Alleine in Tempelhof sind wegen des Pflegemangels 28 von 50 Betten auf der Kinderstation gesperrt. Die Situation habe nichts mit dem aktuellen Streik der Pflegekräfte bei Vivantes und Charité zu tun. Der Verband der Kinder- und Jugendärzte warnt auch wegen zunehmender Atemwegserkrankungen vor einem „katastrophalen Herbst“.