DDR

Emöke Pöstenyi war 39 Jahre beim Fernsehballett. Jetzt hört sie auf: Weltberühmt in der DDR

Jana, lass ihn in Ruhe!", ruft die Choreografin der Tänzerin zu, die mit ihrem Partner ein Duett probt. Sylvia wollte den Mann nicht verführen, sie wollte nur mit ihm tanzen, zwei, drei Hebefiguren gehören dazu - aber daraus wird heute nichts. Karsten soll sich schonen, verlangt die Choreografin schon den ganzen Tag. Der Solist Karsten Rietschel muss die Parts für die beiden anderen Solisten des Fernsehballetts mit übernehmen, von denen der eine krank im Bett liegt und der andere gerade mit einer Sehnenverletzung ausschied. Dabei ist Rietschel selbst stark erkältet. Emöke Pöstenyi, die Choreografin und künstlerische Leiterin des Balletts, plagt ihr Gewissen, dass sie den Tänzer überhaupt im Probenraum duldet. Aber was soll sie machen - morgen ist Premiere. Früh um sieben fährt der Bus mit den Tänzern nach Wolfsburg, wo Carmen Nebel ihr "Frühlingsfest der Volksmusik" präsentiert. In 32 Städten wird das Programm gezeigt. Es gibt nicht viele Veranstaltungen, die so beharrlich Hunderttausende von alten Menschen aus ihren Fernsehsesseln aufscheuchen. Das Fernsehballett war von Anfang an dabei. Als Carmen Nebel Ende der 90er-Jahre mehr Zuschauer versammelte als der vormalige Platzhirsch des Genres, Karl Moik, hat der Österreicher auch Tänzerinnen angeschafft. Sie sind drei Klassen schlechter als das Fernsehballett, aber eben eine Abwechslung. "Eigentlich wird hier keiner krank", sagt Pöstenyi, "unsere Tänzer kommen noch mit dem Kopf unterm Arm." Nur mit kaputten Sehnen wird es schwierig. Dennoch käme es niemandem hier in den Sinn, eine Show abzusagen, aus welchen Gründen auch immer. Das war das Erste, was das Fernsehballett bei seiner Entlassung in die Marktwirtschaft vor zehn Jahren lernen musste: Lehne niemals einen Auftrag ab! Er ist bares Geld. Zwei neue Tanz-Nummern, aber bitte bis übermorgen! - so etwas geht heute alles, dann wird eben durchgearbeitet. Früher wurde für einen "Kessel Buntes" mindestens zwei Wochen geprobt. Ja, früher war alles anders. Das Fernsehballett war hoch angesehen im Unterhaltungsreich DDR. Es stand einfach nie in Frage. Jedes Jahr flossen für die 30 Damen und Herren des Balletts drei Millionen Mark, viel Geld. Undenkbar bis zum Schluss eine Debatte über das Daseinsrecht eines Balletts. Das kleine Land leistete sich allein in Berlin fünf riesige Ballettensembles - an der Komischen Oper, der Staatsoper, am Friedrichstadtpalast, am Metropol, beim Fernsehen. Die Ballettschulen kamen kaum nach mit dem Nachwuchs. Die Ensembles der großen Häuser waren oft doppelt so groß wie heute (Friedrichstadtpalast: 800 Mitarbeiter, heute 300), überall wurde Personal gesucht und nicht etwa "abgebaut". Für so etwas hätte es nicht mal einen Begriff gegeben. Das Land lebte bis zu seiner Pleite mit Pomp über seine Verhältnisse.So ein Fernsehballett hatte der Westen nicht, die Ost-Funktionäre registrierten es mit Genugtuung. Aus genau diesem Grund war es schließlich vor 40 Jahren gegründet worden, um "unseren Werktätigen" etwas zu bieten, um dem Westen voraus zu sein. Weil es bis 1961 so viele Tänzer in den Westen gezogen hatte, fahndete die DDR sogar in ausländischen Ballettschulen nach Ersatz. Auf diese Weise kam Emöke Pöstenyi 1960 aus Budapest an das Theater Meiningen. Die DDR der sechziger Jahre war nirgendwo verlockend und aufregend, aber eine schöne, hoch gewachsene Großstädterin musste das thüringische Meiningen als Zumutung empfinden. Dafür sollte sich die 18-Jährige neun Jahre lang eine tadellose Haltung und eine phänomenale Biegsamkeit antrainiert haben? Ein Jahr später tanzte sie im Friedrichstadtpalast, 1963 fing sie beim Fernsehballett an und ging nie wieder weg. Sie wurde Solistin und zusammen mit Susan Baker weltberühmt in der DDR. Es gab im Osten keinen Bürger mit Fernseher, der das Duo Susan und Emöke nicht kannte. Überhaupt war das Fernsehballett beliebt. Es war schick, es war stumm und also dankenswerterweise unpolitisch, es verströmte diesen Hauch von Glamour und weiter Welt, obwohl die Compagnie nie in den Westen durfte. So viel Vertrauen hatte dann doch niemand in die Glitzergestalten. Außerdem handelte es sich um ein gutes Showballett. Die Damen und Herren waren groß, schön, schnell, geschmeidig, klassisch ausgebildet und verblüfften mit einer fabelhaften Synchronität. Das DDR-Fernsehballett war als Visualisierung des 70er-Jahre-Disko-Pops interessant. Bis heute erkennt man es sofort, vor allem die Handschrift der Choreografin Pöstenyi. Es ist das, was immer noch bei den Volksmusik-Festen beliebt ist: "Waterloo", "Kisses for me" und ein weichgespültes Beatles-Medley mit dem Fernsehballett. Die 26 Damen und Herren sind jung und drahtig, sie könnten mehr, sie hören andere Musik, sie fühlen sich künstlerisch oft unterfordert - aber gezeigt wird, was der Kunde bucht. Und zwar auf hohem technischen Niveau, denn bis heute kann sich das Fernsehballett trotz der üblichen schlechten Bezahlung in der Branche (etwa 2 000 Euro Monatsgehalt) aussuchen, wer hier arbeitet. Emöke Pöstenyi sagt: "Ich selbst hätte hier keine Chance mit meiner damaligen Privatschulausbildung, wo ich dreimal die Woche nachmittags Stunden nahm. Heute haben die Bewerber mitunter akrobatische Fähigkeiten, überall wird heute mehr verlangt - wahrscheinlich würden sie mir nicht mal mehr einen Führerschein geben." Emöke Pöstenyi hatte ihre große Zeit in den 70er- und 80er-Jahren, da choreografierte sie nicht nur für das Fernsehballett, sondern auch für drei Opernhäuser und für den Friedrichstadtpalast. Anfang der 90er Jahre, als das DDR-Fernsehen abgewickelt wurde, hat Pöstenyi ihre Compagnie zusammengehalten und für ihr Weiterleben gekämpft, bis diese schließlich beim MDR-Fernsehen "andocken" konnte. 1,3 Millionen Euro muss sie jährlich einnehmen, der größte Teil kommt durch Auftritte beim MDR. Das ist der Sender, der mit Macht den altbackenen Charme des DDR-Fernsehens konserviert. Nie würde Pöstenyi über diesen Sender ein kritisches Wort verlieren, ihre Compagnie braucht ihn, auch wenn sie selbst im Sommer aufhören wird. "Man geht leichter, wenn man das Gefühl hat, keinen Trümmerhaufen zu hinterlassen. Und außerdem - die Walzer und Tangos, die ich auf die Bühne brachte, sind ungezählt. Ich habe in meinem Beruf gemacht, was ich konnte und wollte. Ich will nicht überziehen." Emöke Pöstenyi will dann nicht mehr früh um sieben in Bussen wegfahren, sondern alle Tage ausschlafen und reisen. Sie ist trotz eines beträchtlichen Zigarettenkonsums, von dem ihr Ehemann - der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase - nichts wissen soll, bei bester Gesundheit. In dieser Woche wird sie 60 und ist verreist. Sie und ihr Mann sind keine Anhänger von Jubiläen. Einmal waren sie bei Nachbarn feierlich zum Kaffee eingeladen. Das Ehepaar erkundigte sich ahnungsvoll, ob es etwas vergessen hätte, einen Geburtstag vielleicht. Und wirklich war dem Ehepaar Pöstenyi/Kohlhaase ein Jubiläum entfallen: Es war das Datum ihrer eigenen Silberhochzeit. "Ich sehe aber auch nicht aus wie ein Silberbräutigam", sagt der 71-jährige Kohlhaase nachträglich über das Ereignis. Aber wie will auch ein Silberbräutigam aussehen, wenn er zu einer Silberbraut passen soll, die einen geschätzten Taillenumfang von 55 Zentimetern hat und mit jedem Backfisch konkurrieren kann.Das Fernsehballett war beliebt. Schick, stumm und also dankenswerterweise unpolitisch.BERLINER ZEITUNG/MIKE FRÖHLING Die Choreografin Emöke Pöstenyi bei einer Probe des Fernsehballetts