Verhaftet wurde Joachim Staritz im März 1958 nach einem Mittagessen im "Trichter". Die drei Leute vom Staatssicherheitsdienst, die ihn in ihren EMW verfrachteten, hatten zuvor ebenfalls in diesem Lokal am Schiffbauerdamm gegessen. Nun fuhren sie mit dem Studenten der Freien Universität durch ein beginnendes Schneetreiben davon. Als er ins Pankower Untersuchungsgefängnis überstellt wurde, verblüffte er seine Vernehmer damit, dass er den ihm verborgen gehaltenen Aufenthaltsort verifizieren konnte - Staritz hatte die Geräuschmischung aus der Straßenbahnlinie 46, dem 45er Bus und der Werks-pfeife der Zigarettenfabrik Garbatti wiedererkannt. 25 Jahre alt war er.Seine Mutter, die ihn am 12. November 1932 in Halensee auf die Welt gebracht hatte, war Schauspielerin und Sängerin gewesen und Jochen wollte auch zum Theater. Am liebsten ans BE, das kannte er von einem Praktikum, als er 1954 zusammen mit Nele Hertling und anderen Eleven in Brechts Proben zum "Kaukasischen Kreidekreis" gesessen hatte. Da studierte Jochen Staritz noch Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität. Als er 1955 wegen ungenehmigter Reisen nach Frankreich aus der SED flog, ging er als Hilfsisolierer ins Kraftwerk Herrenhausen nach Hannover, dann nach Paris an die Sorbonne. Wäre er nur dort geblieben.Aber der XX. Parteitag der KPdSU hatte Hoffnungen geweckt. Jochen kehrte in die Westhälfte Berlins zurück, wurde SDSler, begann für "Konkret" zu arbeiten, fuhr als "Ostwestlicher Iwan" häufig nach OstBerlin seine Freunde treffen. Man ging ins BE, und in den "Trichter".Die Vernehmer warfen Joachim Staritz Bildung einer "staatsfeindlichen trotzkistischen Plattform unter Ostberliner Studenten und Kulturschaffenden" vor, Pläne zur Beseitigung Ulbrichts. Nach einem halben Jahr Untersuchungshaft bekam Staritz im Herbst 1958 einen Prozess gemacht wegen "Boykotthetze". Das Urteil lautete: acht Jahre Zuchthaus. Brandenburg-Görden. Er kam anderthalb Jahre "auf Rot", das hieß Einzelhaft und dann mit Zeugen Jehovas auf "Nicht-Arbeiter". Mit der Hilfe seiner Freunde Manfred Bieler und Ralph Knebel, Jochens Mutter und seines Bruders Dietrich gelang es, ihn nach 4 1/2 Jahren freizubekommen.Als er vor der Haftanstalt Rummelsburg auf die Straße tritt, spürt er, dass sich vieles verändert hat. Sogar die Beine der Frauen erscheinen ihm anatomisch verwandelt. Es dauert, bis er begreift, warum: Die Strumpfnähte fehlen, das Zeitalter der Strumpfhose war angebrochen. Und es gibt die Mauer. In die aufgescheuchte Metropole ist die Schläfrigkeit eingezogen. Aber Joachim Staritz will im Osten bleiben, eine Frau hat all die langen Jahre auf ihn gewartet, auch hofft er endlich zur Bühne gehen zu können. Gerade zu dieser Zeit aber sind in der DDR viele kleine Theater und Orchester geschlossen worden. Keine Chance. Manfred Bieler, der ein erfolgreicher Hörspielautor ist und der Rundfunkjournalist Ralph Knebel verwenden sich beim Staatlichen Komitee für Rundfunk für eine Möglichkeit, Staritz als freien Mitarbeiter zu beschäftigen. Er darf Kabaretttexte tippen und später als Regieassistent auf Honorarbasis arbeiten. Als er 1966 in Reaktion auf das 11. Plenum den Funk verlassen und ans Annaberger Theater gehen will, kämpft der Produktionschef und väterliche Gönner Wolfgang Schonendorf erfolgreich um einen festen Vertrag für ihn, denn das Talent war nicht zu überhören.Bald gibt es eine erstaunliche Namensreihe von Schauspielern, die, wenn sie vom Besetzungsbüro für eine Hörspielinszenierung von Joachim Staritz angefragt werden, bereit sind, ihre Termine umzuschmeißen, um "für Jochen" kommen zu können. Das tun sie nicht nur, weil Staritz ein blitzgescheiter, witziger und sehr charmanter Zeitgenosse ist - sie gehen zu ihm ins Studio, weil er mit seiner Person dafür einsteht, die Dinge auf die Spitze zu treiben, aus ihnen unerreichte Intensitäten herauszukitzeln, unverhoffte Regungen zu entdecken. Zu seinen Lieblingsprotagonisten zählen Käthe Reichel, Edwin Marian, Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz, Margit Bendokat, Eberhard Esche, Angelica Domröse, Horst Lebinsky, Bärbel Röhl, Wolfgang Winkler.Ähnlich wie Besson das DDR-Theater mit spielerischer Leichtigkeit inspiriert, schenkt Staritz dem Hörspiel der DDR die lyrischen Töne, musikalisiert er die spröde Funkdramatik aus der Nalepastraße. Staritz hat so phänomenal leise Szenen entstehen lassen, dass sich die Toningenieure die Haare rauften, weil sie nicht mehr wussten, wie sie die hauchdünnen Seufzer technisch einwandfrei aufs rauschende Tonband bannen sollten.Für den Rundfunk der DDR inszenierte er in 25 Jahren über 100 Hörspiele von Autoren wie Jutta Bartus, Hans-Jürgen Bloch, Christoph Meckel, Albert Wendt und Peter Brasch, große Dramen von Büchner, Kleist, Kaiser, Brecht. Staritz hat einen Sinn für die dialektale Aura und bezieht mundartliche Färbungen ein. Er nutzt auch gern die Möglichkeit, Originalhörspielmusik komponieren zu lassen, am liebsten von Reiner Bredemeyer (1929-1995), z.B. 1978 für die Hörspielversion von Isaak Babels "Maria". Herwart Grosse, der den alten General spricht, hatte diese Rolle bereits am Deutschen Theater gespielt, wo Adolf Dresen 1970 die DDR-Erstaufführung des Stückes herausgebracht hatte. Der Deutschlandfunk sendet heute die Hörspielfassung.Seine Inszenierung von Ernst-Frieder Kratochwils öDas klare Wort zur Schrift" - einem Stück um Luther (Alexander Lang) und Müntzer (Günter Zschäckel) - gelangt 1980 nicht zur Sendung. Jochen, der Rebellensympathisant, hatte der Müntzerfigur die dramatische Vorfahrt eingeräumt, dabei wollte der DDR-Rundfunk mit dem Stück doch zum Luther-Jahr glänzen.Sein romantisches, aufbrausendes Naturell bewahrte Staritz zeitlebens davor, vernünftig oder etwa weise zu werden. Wenn er die Tanzfläche betrat, fiel von der Jahresfeier der Hauptabteilung Funkdramatik die Funktionärs-Etikette, die Kader-instrukteurin senkte ihren Blick, andere Frauen warfen die Schuhe weg, um bei Jochen mitzuhalten.Es muss 1981 gewesen sein, da war Joachim Staritz mit einem Mal wieder verschwunden, der Hörspielabteilung wurde die Auskunft gegeben, er hätte die Liebe seines Lebens - eine Frau aus der Schweiz - kennen gelernt und sei nach Bern übergesiedelt. Empörung und Stutzen, auch Traurigkeit, dass er nicht mehr da war. "Und als drei Jahr verga-ha-ngen war n - simsalabimbambasaladusaladim - da war der Jochen wieder da" - inszenierte in Schwerin am Theater, produzierte ab 1985 auch wieder Hörspiele in Berlin. Das Erstaunliche ist, dass Staritz in den elf Jahren nach 1990 für den MDR, ORB, SDR, SFB und DeutschlandRadio in frappierend dichter Folge über 50 Hörspiele inszeniert hat, darunter Stücke von Einar Schleef, Jens Sparschuh, Oliver Bukowski und Volker Braun. Zu Brechts 100. Geburtstag stellte er für eine Radioversion des öBadener Lehrstücks von Einverständnis" die Sprecherbesetzung Dorothee Sölle, B.K. Tragelehn, Jutta Dittfurth und Bernd Rabehl zusammen.Er ist mit seinen Plänen im Kopf immer schon woanders und nicht bereit, als Zeuge in einem Prozess gegen seinen ehemaligen Richter auszusagen. Nachdem er im April dieses Jahres in Leipzig eine Hörbuch-Fassung von Isaak Babels "Die Reiterarmee" montiert hatte, verschlechterte sich der Zustand seines bereits mehrfach reparierten heißen wilden Herzens. Eine erneute Operation gelang nicht, und er verstarb neunundsechzigjährig am 17. Mai in einer Münchner Klinik. Dass ihm die Welt nun stumm sein könnte, ist nicht vorstellbar.Maria // Der Deutschlandfunk sendet Sonnabend um 20. 05 Uhr das Hörspiel von Peter Goslicki nach dem Roman von Isaak Babel (aus dem Jahre 1935). Es geht um den Niedergang einer zaristischen Generalsfamilie, deren Tochter Maria zur Revolutionärin wird.Aus dem Russischen übersetzt von Wassilka Stoimenowa und Adolf Dresen. Regie: Joachim Staritz, Musik: Reiner Bredemeyer, Mitwirkende: Gudrun Ritter, Herwart Grosse, Horst Hiemer, Jenny Gröllmann, Berko Acker, Walfriede Schmitt, Horst Schönemann, Michael Gwisdek, Dieter Mann u. a.Matthias Thalheim ist Hörspielchef des MDR WERNER BETHSOLD J. Staritz produziert mit Jutta Hoffmann und Gudrun Ritter (r. ) Schleefs "Totentrompeten".