Politik

Die Leipziger Nikolaikirche und ihr Pfarrer Christian Führer sind zum Symbol der friedlichen Revolution von 1989 geworden. Warum eigentlich?: "Gott hat Großes an mir getan"

Zwanzig Jahre danach sitzt die friedliche Revolution im Kaffeehaus Riquet und spricht von einem "Wunder biblischen Ausmaßes". Die Revolution trägt T-Shirt und Jeansweste. Eine ausgewaschene, unförmige Weste, die so tut, als hätte die Zeit vor zwei Jahrzehnten beschlossen, nicht mehr weiterzugehen. "Es war unglaublich, was damals geschah." Es ist unglaublich geblieben. Wunder vergehen nicht, Wunder fallen aus der Zeit.Jede Revolution hat ihre Helden. Die Nachwelt braucht sie, um sich erinnern zu können. Für Christian Führer hat die friedliche Revolution in der DDR von 1989 nur einen Helden: Jesus. Jesus hat bis dato zu '89 zwar geschwiegen, dafür aber spricht Christian Führer. In dem Kaffeehaus im Leipziger Schuhmachergässchen fragt er: "Wann war uns je eine Revolution gelungen?" Er wartet die Antwort nicht ab, er will sie selbst geben: "Noch nie zuvor." Christian Führer zupft an seiner Weste und schiebt die Augenbrauen in die Stirn. "Wann hat es je eine Revolution gegeben, die in den Kirchen heranwächst, die aus der Kirche kommt und gewaltfrei ist?" Eben. Ein Wunder.Christian Führer war der 122. Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche seit der Reformation. Am 13. Oktober 1980 wurde er in sein Amt eingeführt, am 30. März 2008 in den Ruhestand verabschiedet. "Es war ein wunderbarer Gottesdienst", erinnert sich Führer. Mit den Pfarrern der benachbarten Gemeinden zog er "in einer schönen Schar" über den Kirchplatz, "um uns herum standen und liefen Journalisten, Fotografen und Kameraleute". Als er die Kirche betritt, ist Führer "wie benommen". Die Reihen sind voll besetzt, sofort kommt ihm die Erinnerung an jenen Tag als die Kirche "überfüllt" war, den 9. Oktober 1989. In seiner Abschiedspredigt spricht er davon, dass Anfangen und Aufhören immer zusammenfallen. Als Pfarrer hat Führer aufgehört, aber die Nikolaikirche ist sein Haus geblieben, das Zentrum seiner wahren Berufung: dem Dienst am Wunderverkündertum. Seine Lieblingsworte sind Jesus und ich. Selbst wenn er "Wir" sagt, meint er "Ich und die anderen". Ich war dabei damals, ich kann das Wunder bezeugen, und ich habe die Friedensgebete an der Nikolaikirche begründet. Am 9. Oktober 1989, nach dem Friedensgebet mit 2 000 Menschen in der übervollen Kirche, zog ein Demonstrationszug durch Leipzig. 70 000 nahmen teil, es kam zu keiner Gewalt. "Ich hatte es immer wieder in den Friedensgebeten gesagt, nehmt die Gewaltlosigkeit mit auf die Straßen und Plätze." Die Menschen hörten auf ihn, und wenn er zurückdenkt, fällt ihm ein Vers aus dem Lukasevangelium ein: "Er hat Großes an mir getan."In den Zeitungen steht "Wende-Pfarrer", wenn von Christian Führer die Rede ist. Wende würde er niemals sagen, von einer "Wende" hat Egon Krenz gesprochen, als er noch glaubte, die DDR ließe sich retten. Diese Wende jedoch sollte aus dem Politbüro kommen. Verhängnisvollerweise rechneten die Genossen dabei nicht mit Jesus. "Es gibt nicht nur die vier Hebel der Politik: Geld, Armee, Wirtschaft, Medien", es gibt auch den "Geist Jesu". Und wenn er die Menschen ergreift, so Führer, gibt es "gewaltige Veränderungen". Am 9. Oktober 1989 hat er sie ergriffen, in der Christian-Führer-Kirche. Dieser Tag ist für ihn deshalb das "Kerndatum" der friedlichen Revolution. Danach war die DDR nicht mehr, was sie 40 Jahre lang gewesen ist, jedenfalls für Christian Führer. Er weiß, dass auch "andere Kräfte" im Herbst '89 wirksam waren, er aber fühlt sich "verpflichtet, diesen Aspekt zu bezeugen".Christian Führer hat jetzt ein Buch geschrieben, sein Leben auf 334 Seiten. Es heißt "Und wir sind dabei gewesen", von Wunder ist gleich auf der ersten Seite die Rede. Was er mit seinem Buch erzählen will, sei "keine Erfolgsgeschichte, sondern eine Glaubensgeschichte". Für Christian Führer ist sie beides: eine Erfolgs- und eine Glaubensgeschichte. Und er ist stolz darauf - nicht immer hat der Glaube Erfolg. Er ist stolz auf seinen Jesus, denn er hat Wort gehalten: "Jesus sät das Gotteswort, und wo es aufgeht, versetzt es die Welt in Erstaunen." Er ist stolz, noch immer seine Jeansweste zu tragen: "Ich bin Gemeindepfarrer geblieben, es hat mich auch niemand gefragt, ob ich Ministerpräsident werden will." Er ist stolz auf den Augsburger Friedenspreis, den er 2005 gemeinsam mit Michail Gorbatschow erhielt, stolz auch, dass der "namhafte Schriftsteller" Erich Loest einen Roman mit dem "wunderbaren" Titel "Nikolaikirche" geschrieben hat - Christian Führer hat ihm den Anstoß gegeben und Frank Beyer das Buch später verfilmt, mit Ulrich Mühe als Pfarrer Ohlbaum alias Christian Führer. Darauf ist Führer nicht so sehr stolz. Er ist zwar ausschließlich an Originalschauplätzen gedreht: in der Nikolaikirche, auf dem Kirchhof, in Führers Arbeitszimmer. "Manches im Film aber wirkt irgendwie künstlich." Manches ist anders, als Christian Führer es erinnert. Weniger aufregend, nicht so unglaublich. Immerhin aber können "Menschen aus Westdeutschland, die logischerweise kein Hintergrundwissen haben", sehen, wie friedlich die Friedensgebete waren.Die Friedensgebete gibt es seit dem 20. September 1982 an der Nikolaikirche. Sie entstanden aus der jährlichen Friedensdekade, zehntägigen Friedensgebeten im Herbst. Zehn Tage im Jahr war einigen in der Jungen Gemeinde zu wenig: Sie forderten wöchentliches Beten. Der damalige Superintendent Friedrich Magirius, der Kirchenvorstand und Christian Führer nahmen den Wunsch auf. Es gab bereits vorher Friedensgebete an anderen Kirchen, in Erfurt zum Beispiel, aber nur in der Nikolaikirche finden sie seitdem ohne längere Unterbrechungen statt, bis heute. Und bis heute hängt an der Nikolaikirche in einem verwitterten Schaukasten ein vergilbtes Schreiben Führers. Die Wurzeln der friedlichen Revolution sind die Friedensgebete, heißt es darin. Er meint seine Friedensgebete an der Nikolaikirche.Das Unruhepotenzial der Gebete fürchtete seinerzeit auch die Stasi. In einer "Gesamteinschätzung" von 1988 steht: "Der absolute Schwerpunkt des sich gegenwärtig vollziehenden Differenzierungs- und Polarisierungsprozesses innerhalb der evangelischen Kirchen und zugleich erhöhter Aktivität negativ politisch orientierter Kräfte bleibt die Stadt Leipzig." Die Nikolaikirche erweise sich als "Sammelbecken von Provokateuren und subversiven Kräften". Der gesamte vierseitige Bericht ist ein einziges Aufatmen - die Stasi glaubte, den Unruheherd identifiziert zu haben. Insgesamt 28 Spitzel waren in der "Operation Igel" auf Christian Führer angesetzt, zum Friedensgebet am 9. Oktober schickte die Stasi hunderte SED-Mitglieder in die Nikolaikirche, denn "wo die Partei ist, hat der Klassenfeind keinen Platz". Aber die Stasi hat sich geirrt, die gesamte DDR war ein Sammelbecken subversiver Kräfte.Im Leipziger Friedensgebet erfuhren die Parteimenschen von Jesus, sie waren, sagt Führer, "dem Evangelium und seiner Wirkung ausgesetzt". Und die Provokateure haben, zum Erschrecken der Stasi, außerhalb des "absoluten Schwerpunktes" Leipzig gewirkt, am 7. Oktober im vogtländischen Plauen, der - gemessen an der Einwohnerzahl - größten Revolutionsdemonstration in der DDR, am 4. Oktober auf dem Dresdner Hauptbahnhof, wo es im Zusammenhang mit Ausreisewilligen auf dem Weg nach Prag zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Das weiß man heute, damals wusste die Mehrheit vor allem von der Leipziger Demonstration - sie wurde gefilmt und in der "Tagesschau" gezeigt. Leipzig, die Nikolaikirche, Christian Führer sind durch das Fernsehen zu Stellvertreterfiguren, zu Revolutionssymbolen geworden. Sie sind es geblieben.Zwanzig Jahre danach hat das Land noch nicht gelernt, differenzierter zu erinnern. Ihre Helden der Revolution sind Fernsehhelden.Differenzieren produziert Widersprüche, ärgerliche Ungereimtheiten. Den subversiven Kräften an der Nikolaikirche, den Umwelt- und Friedensgruppen, hatte Magirius die "bestehende Praxis der Eigenverantwortung" für die Friedensgebete im September 1988 entzogen, ganz im Sinne Führers - er fürchtete eine "geistliche Entleerung der Friedensgebete". Die Empörung unter den Gruppen war damals groß. Christoph Wonneberger, Pfarrer an der Lukaskirche Leipzig, Mitbegründer der Initiative "Sozialer Friedensdienst" und der weitaus politischere Kopf als Führer, wollte den Dissens beim Friedensgebet vom 24. Oktober 1988 ausdiskutieren. Für Führer war das eine "Kampfarena", kein Friedensgebet mehr. Er stellte sich auf einen Stuhl: "Ihr könnt draußen auf dem Nikolaikirchhof weiter diskutieren." Es gab Tumult und Geschrei. Führer stieg vom Stuhl. "Die Menschen standen auf. Sie folgten mir und verließen die Kirche." Monate später hielt er den Konflikt nicht mehr aus: "Ich musste die Gruppen zurückgewinnen."Er hat sie zurückgewonnen. Die Nikolaikirche verwandelte sich, sagt er, zum "Wallfahrtsort" Kerzen tragender DDR-Bürger. Wonneberger dagegen wurde von der Koordination der Friedensgebete ausgeschlossen. Im Oktober 1989 erlitt er einen schweren Schlaganfall, er gab sein Pfarramt auf. Führer findet es heute "erschreckend, wie schnell ein Mensch aus dem kollegialen und gesellschaftlichen Gedächtnis verschwindet, sobald er nicht mehr in der ersten Reihe steht". Als er 1995 gemeinsam mit 26 Menschen aus der ehemaligen DDR das Bundesverdienstkreuz erhalten sollte, bat er um ein 27. Kreuz für Wonneberger. Er ist dennoch aus dem Gedächtnis der Erinnerungsgesellschaft gefallen.Christian Führer hat man nicht vergessen. Wolfgang Tiefensee, einst Leipziger Oberbürgermeister, inzwischen Bundesminister, schrieb ihm aus Anlass der Verleihung der Hans-Böckler-Medaille: "Für die meisten Menschen bist Du - auch wenn Du das nicht gern hören magst - einer der wirklichen Helden unserer friedlichen Revolution." Er hört das gern, noch lieber aber spricht er über seine Friedensgebete. Im Kaffeehaus Riquet, zwanzig Jahre danach, ahnt man, wie oft er sie inzwischen erzählt hat - sie klingen nach auswendig gelerntem Schulstoff. Und ganz gleich, worüber Führer spricht, alles passt er seiner Lehre an, in der Jesus der gute Onkel der Entrechteten ist. In den Neunzigerjahren hat Führer mit seinen Friedensgebeten gegen Neonazis, gegen den Irak-Krieg und für den Erhalt einer lokalen Bierbrauerei gebetet. Gott ist keiner, der nur zuschaut. Gorbatschow erscheint ihm im Rückblick als "Perspektivträger Gottes", der Herbst '89 als Wunder, und die Brauerei wurde auch gerettet.Eigentlich, sagt er, müsste der 9. Oktober Nationalfeiertag sein, nicht der 3. Oktober. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 saß er dennoch beim ZDF in einer Live-Sendung . Er kann es kaum glauben: "Ich als kleiner Gemeindepfarrer!"------------------------------Foto: Christian Führer, Pfarrer an der Nikolaikirche von 1980 bis 2008Foto: Nach dem Friedensgebet am 18. September 1989 vor der Nikolaikirche: Volkspolizisten versperren Kirchenbesuchern den Weg.